Die Königin von Theben
ist an meine Hand gewöhnt, nicht an die Eure.«
»Das muss ich riskieren.«
»Ist das nicht Irrsinn?«
»Der einzige Irrsinn ist es, vor dem Feind zu kapitulieren.«
Der Blinde erhob sich, und Ahotep tat es ihm gleich.
»Dreht Euch um, Prinzessin.«
Der alte Mann verband der jungen Frau mit einem Stück Leinen die Augen, nahm sie an der Hand und führte sie zu einem verlassenen Feld.
»Der Besitzer dieses Grundstücks ist vor einem Monat gestorben. Die Flut hat die Grenzsteine mitgerissen, die Erben werden einander die Augen auskratzen. Ich hatte nicht die Absicht einzuschreiten, denn es gibt keinen mehr im königlichen Palast, der meine Weisung aufzeichnet. Heute ist alles anders. Ihr seid bereit, das Abenteuer zu wagen, und der Haushofmeister wird unser offizieller Zeuge sein. Aber seid Ihr wirklich entschlossen?«
»Verzichtet darauf, Prinzessin«, empfahl Qaris. »Seths Stab besitzt eine solche Kraft, dass er Euch vernichten kann.«
»Bin ich durch dieses Band um die Augen nicht vor jedem äußeren Angriff geschützt? Gib mir das Zepter, Landvermesser!«
»Wenn er Euch duldet, Prinzessin, lasst Euch von ihm führen!«
Ahotep zitterte nicht. Ihre Finger schlossen sich um den Stab, dessen feurige Energie ihr einen Schmerzensschrei entlockte. Doch sie ließ ihn nicht los, und mit einem Mal erblickte sie einen nächtlichen Himmel, an dem ein Stern heller leuchtete als alle anderen. Ahotep ging auf ihn zu, und das helle Licht schwächte sich ab. Dreimal wiederholte sich das sonderbare Phänomen. Und bei jedem Mal machte die Prinzessin einige Schritte. Dann verschwand beides, Himmel und feuriger Stab, und die Augenbinde löste sich von selbst.
»Die Vermessung der Erde wurde gemäß den himmlischen Gesetzen vorgenommen«, erklärte der alte Blinde. »Die Grenzsteine des Feldes stehen wieder dort, wo sie rechtmäßig hingehören. Möge Prinzessin Ahotep das Zepter des Seth bewahren und ganz Ägypten vermessen nach Recht und Gesetz.«
12
Ü ber dem Sethtempel in Auaris war der Himmel schwarz. Von Norden kommend, hatten sich in dicht gedrängten Reihen Wolken gebildet, die die Hauptstadt der Hyksos bedrohten.
Ihr Hauptheiligtum besaß längst nicht die Pracht der ägyptischen Bauwerke. Es bestand nicht aus Stein, sondern aus Ziegeln, und war nicht nur dem ägyptischen Gott des Blitzes geweiht, sondern auch Hadad, der syrischen Gottheit des Gewitters. Vor dem Tempel stand ein rechteckiger Altar, umgeben von Eichen und von Gräben, in denen die verkohlten Knochen geopferter Tiere lagen.
Diesen Ort hatte sich eine Gruppe von etwa zehn Verschwörern als Treffpunkt ausersehen, zu deren hervorragendsten Mitgliedern ein Asiate zählte, der Leiter von Apophis' Leibgarde. Nach langen und umsichtig geführten Palavern war es ihm endlich gelungen, mehrere Männer und eine Frau für seine Sache zu interessieren: einen General aus Kanaan, einige aus Anatolien stammende Offiziere und die vornehme Aberia, Tochter eines Zyprioten und einer Griechin, die von dem Tyrannen damit beauftragt worden war, aus wohlhabenden Ägypterinnen brauchbare Sklavinnen zu machen.
Alle bekleideten hohe Ämter und hatten im Dienst des neuen Herrn Ägyptens Reichtümer angehäuft, ohne einen einzigen seiner Befehle je in Zweifel zu ziehen. Doch seit einigen Monaten hatte sich ihre Situation durch den Aufstieg Khamudis immer mehr verschlechtert. Dieser setzte alles daran, seinen Machtbereich zu vergrößern, und die hohen Würdenträger des Hofes verloren in dem Maß an Einfluss, in dem die rechte Hand des höchsten Herrschers immer unabkömmlicher schien.
Gewiss, Khamudi hatte sich bei der Vernichtung der letzten Widerstandsgruppe als außerordentlich wirkungsvoll erwiesen; doch flüsterte man sich nicht hinter vorgehaltener Hand zu, dass er den Feldzug gegen die Aufständischen dazu benutzt hatte, auch treue Anhänger Apophis' unschädlich zu machen, weil ihr Ehrgeiz seine Stellung bedrohte?
So hatte der Leiter der königlichen Leibgarde eine einzige beunruhigende Frage gestellt: »Wer wird der Nächste sein?« Und seine Frage war schließlich bei einigen auf Interesse gestoßen. Bereiteten Apophis und Khamudi nicht eine groß angelegte Fahndung vor, die das Ziel hatte, sie von lästig gewordenen Gefolgsleuten zu befreien? Als Ersatz kamen jede Menge Emporkömmlinge in Frage, die die unappetitlichsten Aufgaben erfüllen würden, ohne mit der Wimper zu zucken.
Der anatolische Offizier, dem die Ausbildung der Bogenschützen oblag,
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