Die Königin von Theben
Karnak entfernt, boten einen traurigen Anblick. Die Mauern aus ungebrannten, weiß gekalkten Ziegeln drohten einzustürzen, die meisten Häuser waren baufällig. Es gab nirgendwo Wachen, nur streunende Hunde, die sich beim Herannahen von Ahotep und Qaris verzogen.
»Ist hier jemand?«, rief Qaris laut.
Ein Windstoß antwortete ihm. Ein so kräftiger Windstoß, dass ein paar Äste einer alten Tamariske mit einem unheimlichen Krachen brachen, was den Haushofmeister zusammenfahren ließ.
»Gehen wir lieber wieder, Prinzessin.«
»Aber … Wer ist jetzt für den Kataster zuständig?«
»Niemand, Ihr seht es ja … Die Klagen häufen sich, aber sie bleiben folgenlos.«
»Warum schreitet der Minister für Landwirtschaft nicht ein?«
»Wie die meisten anderen Würdenträger denkt er vor allem an seine letzten Privilegien und wie er sie behalten kann.«
Ahotep ballte die Fäuste. »Man muss ihn unverzüglich ins Gefängnis werfen!«
»Vorher muss er aber abgeurteilt werden«, widersprach Qaris, »und man muss ihm seine Inkompetenz nachweisen. Und da der Minister die Richter kaufen wird, ist das aussichtslos.«
Plötzlich sammelten sich die streunenden Hunde und begannen zu bellen. Sie bildeten einen Kreis um die Prinzessin und ihren Begleiter. Als Qaris versuchte, ihn zu durchbrechen, fletschte einer der Zerberusse drohend die Zähne, und er musste zurückweichen.
»Was sollen wir machen, wenn sie angreifen?«
»Bis jetzt begnügen sie sich damit, uns Angst einzujagen«, sagte Ahotep. »Wir sollten uns vor allem nicht bewegen.«
Ein bejahrter Mann trat aus dem Hauptgebäude und kam mit sehr langsamen Schritten auf die Eindringlinge zu. Er war fast kahl, hatte ein kantiges Gesicht und trug einen langen Schurz, einst ein prachtvolles Kleidungsstück. In der rechten Hand hielt er einen knotigen Stock.
»Wer seid Ihr?«, fragte er in ernstem und feierlichem Ton.
»Ich bin Prinzessin Ahotep, und das ist Haushofmeister Qaris, der mich begleitet.«
»Ahotep … Die Tochter von Königin Teti?«
»So ist es. Und du, wer bist du?«
»Der Herr der Hunde, der diesen Ort bewacht, damit die Akten des thebanischen Katasteramts nicht von Dieben weggeschleppt werden.«
»Würdest du es wagen, uns als Diebe zu bezeichnen?«
»Geht in Euren Palast zurück, Prinzessin. Dieser Ort beherbergt nur alte Archive.«
»Aber du setzt dein Leben aufs Spiel, um sie zu beschützen!«
Der Mann lächelte. »Mein Leben hat keinen Wert mehr, Prinzessin, da es mir nicht mehr möglich ist, meines Amtes zu walten.«
Ahotep betrachtete ihr Gegenüber eindringlicher. »Aber … du bist blind!«
»Ja, von Geburt an.«
»Bist du auch … Landvermesser?«
»Der letzte blinde Landvermesser von Theben, ja. Einige Jahre lang habe ich die Grenzsteine, die das Hochwasser wegriss, wieder an ihren Platz gesetzt. Doch in jener Zeit herrschte Gerechtigkeit … Heute habe ich keinen Platz mehr.«
Ahotep ging zwischen zwei argwöhnisch knurrenden Hunden hindurch und berührte die Hand des Blinden.
»Hast du das Zepter des Schreckens noch, das nur du in Händen halten durftest?«
»Es ist mein wertvollster Besitz.«
»Würdest du es mir anvertrauen?«
»Ich vermag Euch nicht zu sehen, Prinzessin, aber ich weiß, dass Ihr schön seid, überaus schön … Warum wollt Ihr diese Schönheit aufs Spiel setzen?«
»Weil ich Ägypten befreien will.«
»Ägypten befreien … Wartet hier auf mich.«
Ohne Zögern begab sich der Blinde zu einem Schuppen, dessen Dach von Säulen in Form von Papyrusstengeln getragen wurde.
Als er nach ein paar Minuten wieder herauskam, schwenkte er ein seltsames hölzernes Zepter.
Bei seinem Anblick liefen die Hunde davon.
»Setzen wir uns dort auf die Bank«, schlug der Landvermesser vor.
Ahotep betrachtete das Zepter fasziniert.
»Der Kopf dieses heiligen Stabes stellt den Gott Seth mit feurigen Augen dar«, erklärte der Blinde. »Er weist den rechten Weg, räumt Hindernisse aus und vernichtet die Lüge. Doch Seth lässt sich seine Dienste sehr teuer bezahlen! Der Vermessene, der glaubt, Herr über seine Kräfte zu sein, wird vom Zorn des Himmels zerschmettert. Niemand darf eine Gottheit zu seinem eigenen Nutzen missbrauchen, doch das gilt für Seth noch mehr als für die anderen Götter, denn er steht über den Mächten des Himmels und der Erde.«
»Ich brauche ihn«, bekräftigte Ahotep. »Wenn sein Zepter meine Armee anführt, wird sie siegreich sein!«
»Seths Handeln ist unvorhersehbar, Prinzessin. Er
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