Die Königliche (German Edition)
Königin. Was in aller Welt reden Sie da?«
»Sag es niemandem, Helda«, bat Bitterblue. »Solange wir nicht wissen, was das heißt, sag es niemandem und hilf mir, sie anzuordnen.«
Sie holten die Laken aus den Schränken und von ihrem Bett und machten eine Aufstellung: 228 Laken mit Stickereien am Rand; 89 Kissenbezüge. Ashen hatte offenbar nichts datiert; es gab keine Möglichkeit, eine Reihenfolge festzulegen, also sortierten Bitterblue und Helda sie in ordentlichen, gleich großen Stapeln auf dem Schlafzimmerboden. Und Bitterblue las und las und las.
Bestimmte Wörter und Sätze tauchten immer wieder auf und füllten manchmal ein ganzes Laken. Er lügt. Er lügt. Blut. Ich kann mich nicht erinnern. Ich muss mich erinnern. Ich muss ihn töten. Ich muss Bitterblue wegbringen.
Erzähl mir etwas Hilfreiches, Mama. Erzähl mir, was geschehen ist, erzähl mir, was du gesehen hast.
Ihren Wünschen entsprechend hatten Bitterblues Ratgeber angefangen, sie über die Lords und Ladys in ihrem Königreich zu informieren. Sie begannen mit denen, die am weitesten weg wohnten: ihren Namen, ihrem Besitz, ihren Familien, den bezahlten Steuern, ihren speziellen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten. Keiner von ihnen wurde ihr als »der Lord mit einer Vorliebe für die Ermordung von Wahrheitssuchern« vorgestellt – tatsächlich war niemand auch nur im Geringsten bemerkenswert – und Bitterblue wusste, dass sie so nicht weiterkam. Sie fragte sich, ob sie irgendwann Teddy und Saf um eine Liste der Lords und Ladys bitten könnte, die ihre Untertanen am ärgsten bestohlen hatten. Würde sie Teddy und Saf je wieder um irgendetwas bitten können?
Als es auf den Oktober zuging, gab es plötzlich eine Schwemme wichtiger Schreibarbeiten. »Was um alles in der Welt ist los?«, fragte sie Thiel, als sie müde Arbeitsaufträge unterschrieb, Unabhängigkeitsanträge hin- und herschob und gegen Papierstapel ankämpfte, die schneller wuchsen, als sie sie abarbeiten konnte.
»Das ist im Oktober immer so, Königin«, erinnerte Thiel sie verständnisvoll. »Das ganze Königreich versucht, seine Geschäfte abzuschließen, um sich auf den Winterfrost vorzubereiten.«
»Wirklich?« Bitterblue konnte sich nicht an einen solchen Oktober erinnern. Allerdings konnte sie die einzelnen Monate sowieso kaum auseinanderhalten: Alle Monate waren gleich. Oder zumindest waren alle Monate gleich gewesen, bis zu der Nacht, als sie die Stadt betreten und dadurch hundert Facetten ihres Lebens verändert hatte.
Eines Tages versuchte sie erneut das Thema der Morde an den Wahrheitssuchern anzuschneiden. »Dieser Prozess, bei dem ich war«, sagte sie, »mit dem Monsea-Lienid, von dem sich dann rausstellte, dass er fälschlicherweise angeklagt worden war – der Freund von Prinz Bo …«
»Der Prozess, bei dem Sie waren, ohne uns zu informieren, Königin, und in dessen Anschluss Sie dann den Angeklagten in Ihre Räume eingeladen haben«, sagte Runnemood süffisant.
»Ich habe ihn eingeladen, weil mein Gerichtshof ihm Unrecht getan hat und er ein Freund meines Cousins ist«, sagte Bitterblue ruhig. »Und ich bin hingegangen, weil es mein Recht ist, hinzugehen, wo ich will. Sein Prozess hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich möchte, dass die Zeugenaussagen vor dem Obersten Gericht ab sofort von anderen Zeugen bestätigt werden. Ich möchte, dass die Verfahren gegen alle Insassen meiner Gefängnisse wiederaufgenommen werden. Alle, haben Sie das verstanden? Wenn dieser Monsea-Lienid beinahe für einen Mord verurteilt worden wäre, den er nicht begangen hat, könnte das bei allen anderen in meinen Gefängnissen auch der Fall sein, oder?«
»Natürlich nicht, Königin«, sagte Runnemood mit einem erschöpften Tonfall, für den Bitterblue kein Verständnis hatte. Sie war auch erschöpft und ihre Gedanken kehrten andauernd zu den kleinen bunten Bildern auf den Laken zurück, die so wenig Hilfreiches enthüllten und so viel Schmerz.
Hätte ich meinem Kind nur einen liebevollen Vater geschenkt. Wäre ich damals doch untreu gewesen. Solche Gedanken kommen einem achtzehnjährigen Mädchen nicht, das von Leck ausgewählt wurde. In seinem Nebel verschwinden Wahlmöglichkeiten. Wie kann ich sie in diesem Nebel beschützen?
Eines Tages blieb Bitterblue an ihrem Schreibtisch die Luft weg. Das Zimmer kippte zur Seite, sie fiel; sie bekam nicht genug Luft in ihre Kehle und Lunge. Dann kniete Thiel neben ihr, hielt ihre Hände und wies sie an, langsam einen Atemzug
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