Die Königliche (German Edition)
zu bitten, ein paar Männer abzustellen, um ein Auge auf sie zu haben?«
»Natürlich nicht, Königin«, erwiderte Helda. »Sie werden alles tun, was Sie verlangen.«
»Ich weiß, dass sie tun werden, was ich anordne. Aber davon wird meine Anordnung noch lange nicht zumutbar.«
»Ich meinte natürlich, dass sie es aus Loyalität Ihnen gegenüber tun werden, Königin«, sagte Helda tadelnd, »nicht aus Verpflichtung. Sie sorgen sich um Sie und Ihre Sorgen. Ihnen ist doch bewusst, dass ich der Wache wegen immer genau wusste, wann Sie sich rausgeschlichen haben, oder? Sie haben es mir jedes Mal gesagt.«
Bitterblue nahm das mit einer gewissen Verlegenheit zur Kenntnis. »Sie hätten mich eigentlich gar nicht erkennen sollen.«
»Sie bewachen Sie jetzt seit acht Jahren, Königin«, sagte Helda. »Glauben Sie wirklich, dass sie nicht inzwischen Ihre Haltung, Ihren Gang, Ihre Stimme kennen?«
Ich bin unzählige Male an ihnen vorbeigegangen , dachte Bitterblue, und habe in ihnen nicht mehr gesehen als Körper, die neben einer Tür stehen. Und ihre Anwesenheit genossen, weil sie aussehen und klingen wie meine Mutter. »Wann komme ich endlich zu mir?«
»Königin?«
»Wie viel ist da noch, das ich nicht sehe, Helda?«
Bitterblue war in Heldas Räumen, weil sie einen Blick auf all die Schals werfen wollte, die Helda unermüdlich hinten aus ihrem Schrank holte, um Bitterblues Blutergüsse zu verstecken. »Ich verstehe das nicht«, fuhr Bitterblue fort, als Helda die Türen weiter aufzog und Fächer voller Stoffe zum Vorschein kamen, die kleine Pfeile der Erinnerung in Bitterblues Herz schossen. »Ich wusste gar nicht, dass du das alles hast. Warum hast du das alles?«
»Als ich als Zofe zu Ihnen kam, Königin«, sagte Helda, während sie Schals hervorzog und sie Bitterblue reichte, damit sie sie berühren und bestaunen konnte, »musste ich feststellen, dass die Bediensteten, denen man diese Aufgabe erteilt hatte, die Schränke Ihrer Mutter etwas übereifrig ausgeräumt hatten. König Ror hatte ein paar Dinge aus Lienid gerettet, wie die Schals und alles sehr Wertvolle, Königin. Aber der Rest – ihre Kleider, ihre Umhänge, ihre Schuhe – war alles weg. Ich nahm an mich, was übrig war. Den Schmuck legte ich in Ihre Truhe, wie Sie wissen, und beschloss, die Schals für Sie aufzubewahren, bis Sie älter waren. Es tut mir leid, dass sie mir erst wieder eingefallen sind, als es nötig war, die Spuren eines Angriffs darunter zu verbergen, Königin«, fügte sie hinzu.
»So funktioniert Erinnerung eben«, sagte Bitterblue leise. »Manche Dinge verschwinden ungebeten und kommen genauso ungebeten zurück.« Und manchmal kamen sie unvollständig und verzerrt zurück.
Es gab einen Aspekt der Erinnerung, der so schmerzhaft war, dass es Bitterblue bis jetzt noch nicht gelungen war, sich ihm vollständig zu stellen, sosehr sie es in letzter Zeit auch versuchte. Ihre Erinnerungen an Ashen waren nichts als Bruchstücke. Viele davon hatten sich in Lecks Anwesenheit ereignet, was bedeutete, dass Bitterblue noch nicht mal richtig bei Verstand gewesen war. In Lecks Abwesenheit hatten sie einen Großteil der Zeit damit verbracht, gegen Lecks Nebel in ihrem Gehirn anzukämpfen. Leck hatte Bitterblue die Mutter nicht nur durch Ashens Ermordung genommen. Er hatte sie ihr schon vorher genommen. Bitterblue konnte sich nicht vorstellen, was für ein Mensch Ashen heute wäre, würde sie noch leben. Es war ungerecht, dass sie immer wieder daran zweifeln musste, wie gut sie ihre Mutter überhaupt gekannt hatte.
Sogar Heldas Räume, das einfache kleine, in Grün gehaltene Schlafzimmer und das türkisfarbene Badezimmer, irritierten Bitterblue, denn als Ashen noch lebte, waren das ihr eigenes Schlafzimmer und Badezimmer gewesen. Bitterblues jetziges Schlafzimmer war Ashens gewesen. Ashen hatte sie in der türkisfarbenen Wanne gebadet, die jetzt Helda gehörte, hinter verschlossenen Türen, um Leck auszusperren, und hatte ihr von allen möglichen Sachen erzählt. Von Ror City, wo sie im Schloss des Königs gelebt hatte, dem gewaltigsten Bau der Welt, dessen Kuppeln und Türme sich über dem Meer von Lienid weit in den Himmel reckten. Von Ashens Vater, ihren Brüdern und Schwestern, Nichten und Neffen. Von ihrem ältesten Bruder, König Ror. Von den Menschen, die sie vermisste und die Bitterblue noch nie gesehen hatte, aber eines Tages kennenlernen würde. Ihre Ringe, die im Wasser aufblitzten.
Das alles war wirklich , dachte Bitterblue
Weitere Kostenlose Bücher