Die Königliche (German Edition)
Versuch, höflich zu sein. Lovejoy hatte in letzter Zeit angefangen, zwischen zwei Persönlichkeiten hin- und herzuwechseln, einer, die Bitterblue voll glühenden Hasses anzischte, wann immer er sie sah, und einer anderen, die ihr griesgrämig überallhin folgte und manchmal an sie geschmiegt einschlief. Er reagierte nicht, wenn sie ihn wegscheuchen wollte, deshalb hatte sie den Versuch aufgegeben, ihn zu beeinflussen.
Das neue Manuskript hieß Die Tyrannei der Monarchie .
Bitterblue lachte laut auf, woraufhin Lovejoy mit dem Putzen innehielt und sie misstrauisch beäugte, einen Fuß in der Luft wie ein Grillhähnchen. »Oje«, sagte Bitterblue. »Kein Wunder, dass mich Todd fast damit beworfen hat. Ich bin sicher, es hat ihn sehr befriedigt.« Und dann war es nicht mehr lustig. Sie wandte sich auf ihrem Stuhl um und sah die Skulptur des Mädchens an, ihre sture, aufmüpfige Miene. Sie dachte daran, dass das Mädchen vielleicht etwas von Tyrannei verstand; dass sie sich in Stein verwandelte, um sich davor zu schützen. Dann sah Bitterblue an ihr vorbei auf die Frau auf dem Wandbehang, deren Augen sie tiefgründig und gelassen ansahen und die wirkte, als verstünde sie alles auf der Welt.
Es wäre schön, wenn das meine Mutter wäre , dachte Bitterblue; dann schrie sie beinahe auf, als ihr ihre Illoyalität bewusst wurde. Mama? Das meine ich natürlich nicht so. Es ist nur – sie scheint in einem Moment gefangen, in dem alles einfach und klar ist. Unsere einfachen, klaren Momente durften nie lange andauern. Und wie sehr würde ich mir ein wenig Klarheit, ein wenig Einfachheit wünschen.
Sie versuchte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zuzuwenden, das sie gerade gelesen hatte, als Todd hereingekommen war, das Buch über den künstlerischen Schaffensprozess. Es war furchtbar. Seitenlang wurden darin Dinge erklärt, die man in zwei Sätzen hätte ausdrücken können: Der Künstler ist ein leeres Gefäß mit einer Tülle. Die Inspiration strömt hinein und Kunst strömt heraus. Bitterblue kannte sich mit dem künstlerischen Schaffensprozess nicht aus; weder sie noch einer ihrer Freunde waren Künstler. Trotzdem fühlte sich dieses Buch irgendwie nicht richtig an. Leck wollte, dass die Menschen leer waren, damit er selbst hineinströmen konnte und die Reaktion, die er sich wünschte, heraus. Wahrscheinlich hatte Leck seine Künstler kontrollieren wollen; kontrollieren und dann ermorden. Natürlich hatte Leck ein Buch gemocht, das Inspiration als eine Art … Tyrannei beschrieb.
Am fünfzehnten Tag seit Runnemoods Verschwinden stieß Bitterblue bei den Stickereien auf etwas Interessantes.
Sein Krankenhaus ist auf dem Grund des Flusses. Der Fluss ist sein Knochenfriedhof. Bin ihm gefolgt und habe gesehen, was für ein Monster er ist. Muss Bitterblue bald wegbringen.
Mehr stand da nicht. Als sie mit dem Laken im Schoß und schmerzender Schulter auf ihrem karminroten Teppich saß, fiel Bitterblue etwas ein, das Bo während seiner Halluzinationen gesagt hatte. »Im Fluss schwimmen Tote.«
Bo , dachte sie an ihn gerichtet, wo immer er auch gerade war. Wenn ich den Fluss trockenlegen würde, würde ich dort Knochen finden?
Keine Knochen , kam Bos verschlüsselte Antwort, allerdings mit Tinte geschrieben, nicht mit Bos Grafit, und in Giddons ordentlicher Handschrift. Es war eine lange Nachricht, so dass Bitterblue froh war, dass Giddon Bo den Gefallen tat, für ihn zu schreiben. Kein Krankenhaus. Ich weiß nicht, wo die Halluzinationen herkamen. Meine Worte passen nicht zu dem, was ich gesehen habe. Was ich gesehen habe, war Thiel, der die Winged Bridge überquerte, obwohl meine Reichweite nicht mal bis zur Winged Bridge geht. Habe außerdem meine Brüder an der Decke Kämpfe austragen sehen, also berücksichtige das, bevor Du mich bittest, Thiel näher zu beobachten. Mein Bewusstsein kann nicht überall sein, weißt Du. Allerdings habe ich zweimal in den letzten Nächten gespürt, wie er den Tunnel betreten hat, der unter der Mauer hindurch zur Oststadt führt.
Habe auch gespürt, dass Du wie ein verlorenes Schaf herumwanderst. Warum wanderst Du nicht mal zur Kunstgalerie? Hava verbringt die meisten Nächte dort. Such sie auf. Sie ist nützlich und Du solltest sie kennenlernen. Denk dran, dass sie in Vergangenheit zwanghafte Lügnerin war. Hat früh Gewohnheit entwickelt, weil nötig. Mit Mutter und Onkel im Schloss aufgewachsen, dem König zu nah, deshalb Tarnung, um nicht aufzufallen. Hat deshalb keine Freunde und
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