Die Königliche (German Edition)
wünschte, ich müsste nicht nach Estill. Dann würde ich auf der Suche nach Runnemood die gesamte Stadt auseinandernehmen und dann zu den Minen reiten, um persönlich deinen Hauptmann zu finden.«
»Haben Giddon oder ich die Zeit, Smit suchen zu gehen?«, fragte Bann.
»Gute Frage.« Bo sah ihn mürrisch an. »Darüber müssen wir nachdenken.«
»Und was ist mit Ihnen beiden?«, fragte Bitterblue an Raffin und Bann gewandt. »Haben Sie Ihre Ratsangelegenheiten in Sunder erledigt?«
»Es war nicht direkt eine Reise im Auftrag des Rats, Königin«, sagte Raffin verlegen.
»Nein? Was haben Sie denn da sonst gemacht?«
»Es war ein königlicher Auftrag. Mein Vater hat darauf bestanden, dass ich mit Murgon über die Heirat mit seiner Tochter spreche.«
Bitterblue blieb der Mund offen stehen. »Sie können doch nicht seine Tochter heiraten!«
»Das habe ich ihm auch gesagt, Königin«, erwiderte Raffin. Mehr sagte er nicht. Es gefiel ihr, dass er die Sache nicht detaillierter ausführte. Es ging sie schließlich nichts an.
Natürlich war es in dieser Gesellschaft unmöglich, nicht über Machtverhältnisse nachzudenken. Raffin und Bann warfen sich dann und wann einen Blick zu und neckten sich in wortlosem Einverständnis oder ließen einfach nur die Augen ineinander ruhen, als wäre jeder der Männer ein Ruhepol für den anderen. Prinz Raffin, der Erbe des Throns der Middluns; Bann, der weder Titel noch Vermögen besaß. Bitterblue sehnte sich danach, ihnen Fragen zu stellen, die sogar für ihre Verhältnisse viel zu neugierig waren. Wie regelten sie Geldangelegenheiten? Wie trafen sie Entscheidungen? Wie kam Bann mit der Erwartung zurecht, dass Raffin heiraten und Erben hervorbringen sollte? Wenn Randa die Wahrheit über seinen Sohn kennen würde, wäre Bann dann in Gefahr? Verübelte Bann Raffin manchmal dessen Reichtum und Stellung? Wie sahen die Machtverhältnisse in ihrem Bett aus?
»Wo ist Giddon überhaupt?«, fragte Bitterblue, da sie ihn vermisste. »Warum ist er nicht hier?«
Die Reaktion kam prompt. Der Tisch verstummte und ihre Freunde sahen sich mit besorgten Mienen an. Bitterblue bekam ein flaues Gefühl im Magen. »Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
»Er ist nicht verletzt, Königin«, sagte Raffin in einem wenig überzeugenden Tonfall. »Zumindest nicht körperlich. Er möchte allein sein.«
Jetzt sprang Bitterblue auf. »Was ist passiert?«
Raffin holte tief Luft und ließ sie langsam wieder ausströmen. Dann antwortete er mit derselben trostlosen Stimme: »Mein Vater hat ihn auf Grund seiner Teilnahme am Sturz des Königs von Nander und seiner fortgesetzten Geldzuwendungen an den Rat des Hochverrats für schuldig befunden, Königin. Man hat ihm seinen Titel, sein Land und sein Vermögen aberkannt, und sollte er je in die Middluns zurückkehren, wird er hingerichtet. Und der Vollständigkeit halber hat Randa seinen Landsitz niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht.«
Bitterblue konnte gar nicht schnell genug zu Giddons Räumen kommen.
Er saß mit hängenden Armen und ausgestreckten Beinen in der Ecke auf einem Stuhl, sein Gesicht vor Entsetzen erstarrt.
Bitterblue ging zu ihm, fiel vor ihm auf die Knie, nahm seine Hand und wünschte, mehr als eine zur Verfügung zu haben.
»Sie sollten nicht vor mir knien«, flüsterte er.
»Psst«, sagte sie, barg seine Hand an ihrem Gesicht und küsste sie. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Königin«, sagte er, beugte sich zu ihr und nahm ihr Gesicht sanft und zart zwischen seine Hände, als wäre es das Natürlichste der Welt. »Sie weinen.«
»Tut mir leid. Ich kann nicht anders.«
»Es tröstet mich«, sagte er und wischte mit den Fingern ihre Tränen fort. »Ich spüre gar nichts.«
Bitterblue kannte diese Taubheit. Sie wusste auch, was darauf folgte. Sie fragte sich, ob Giddon bewusst war, was auf ihn zukam, ob er diese Art entsetzlicher Trauer je erfahren hatte.
Es schien Giddon zu helfen, dass sie ihm Fragen stellte, als würde er durch seine Antworten die Leerstellen ausfüllen und sich daran erinnern, wer er war. Daher fragte sie, wobei jede Antwort zur nächsten Frage führte.
So erfuhr Bitterblue, dass Giddon einen Bruder gehabt hatte, der im Alter von fünfzehn bei einem Sturz vom Pferd ums Leben gekommen war – von Giddons Pferd, das sich von niemand anderem reiten ließ. Giddon hatte seinen Bruder dazu herausgefordert, das Pferd zu reiten, ohne die Konsequenzen vorauszusehen. Giddon und Arlend hatten andauernd
Weitere Kostenlose Bücher