Die Königliche (German Edition)
in ihrer eigenen Lawine gefangen.
Es bedeutete, dass Lecks wirkliche Welt zwar auf Lügen gegründet war, seine imaginäre Welt anscheinend jedoch wirklich existierte.
Bitterblue ließ Thiel dazuholen, weil sie ihn brauchte – so unvermittelt, dass sie im ersten Moment gar nicht daran dachte, dass sie ihn direkt in den Raum gebeten hatte, wo ein Tuch eine falsche Krone bedeckte. Als er an ihrer Tür auftauchte, überrascht, aber mit hoffnungsvoller Miene, streckte Bitterblue die Hand nach ihm aus. Er war hager; er hatte abgenommen. Aber er war ordentlich gekleidet und rasiert und hatte einen aufmerksamen Gesichtsausdruck.
»Das wird Sie vielleicht aufregen, Thiel«, erklärte sie ihm. »Tut mir leid, aber ich brauche Sie.«
»Ich freue mich so, gebraucht zu werden, dass alles andere keine Rolle spielt, Königin«, entgegnete er.
Beim Anblick des silbernen Fells wurde Thiel von Benommenheit und Verwirrung überwältigt. Er wäre auf dem Boden gelandet, wenn es Katsa und Bo nicht gemeinsam gelungen wäre, ihm einen Stuhl unterzuschieben. »Ich verstehe das nicht«, sagte er.
»Sie kennen doch die Geschichten, die Leck erzählt hat, oder?«, fragte Bitterblue ihn.
»Ja, Königin«, sagte Thiel verblüfft. »Er hat dauernd Geschichten von seltsam gefärbten Wesen erzählt. Und Sie haben ja die Kunstwerke gesehen. Die Wandbehänge.« Er zeigte auf das blaue Pferd am anderen Ende des Zimmers. »Die bunten Blumen, die an den Skulpturen hochranken. Die Sträucher.« Thiel schüttelte den Kopf hin und her, als läutete er damit wie mit einer Glocke. »Aber ich verstehe das nicht. Sicher ist es nur das Fell einer speziellen einzigartigen Ratte. Oder … könnte es etwas sein, das Leck gemacht hat, Königin?«
»Lady Katsa hat sie im Gebirge im Osten gefunden, Thiel«, sagte Bitterblue.
»Im Osten! Im Osten lebt nichts. Das Gebirge ist unbewohnbar.«
»Lady Katsa hat einen Tunnel unter dem Gebirge hindurch entdeckt. Es könnte sein, dass dahinter bewohnbares Land liegt. Katsa«, sagte Bitterblue, »hat sie sich wie eine normale Ratte verhalten?«
»Nein«, antwortete Katsa bestimmt. »Sie ist direkt auf mich zugekommen. Ich dachte, Oh, da meldet sich jemand freiwillig, um mein Abendessen zu werden , aber dann merkte ich, wie ich dastand und sie anstarrte wie eine Närrin. Und dann rannte sie auf mich zu!«
»Sie hat dich hypnotisiert«, sagte Bitterblue grimmig. »So hat Leck sie in seinen Geschichten beschrieben.«
»Irgend so was war es, ja«, räumte Katsa ein. »Ich musste mein Bewusstsein abschotten, wie ich es in der Nähe« – ein kurzer Blick zu Thiel, der immer noch schwerfällig mit dem Kopf schüttelte – »eines Gedankenlesers tun würde. Dann kam ich zu mir. Ich will unbedingt dahin zurück, Bitterblue. Sobald ich Zeit habe, werde ich dem Tunnel bis zum Ende folgen.«
»Nein«, sagte Bitterblue, »warte nicht. Du musst sofort gehen.«
»Ist das ein Befehl?«, fragte Katsa lachend.
»Nein«, sagte Bo mit zusammengekniffenem Mund. »Keine Befehle. Wir müssen das besprechen.«
»Alle müssen das Fell sehen«, sagte Bitterblue, die gar nicht zuhörte. »Ich will die Meinung von allen hören, von allen, die die Geschichten kennen, und von allen, die irgendetwas wissen. Darby, Rood, Todd – ob Madlen was von Tieranatomie versteht? –, Saf und Teddy und alle, die die Geschichten aus den Erzählstuben kennen. Alle müssen es sehen!«
»Biber«, sagte Bo leise, »ich rate dir zur Vorsicht. Du wirbelst hier wild glühend herum und Thiel sitzt da wie ein in sich verlorener Mann. Was immer dieses Ding ist«, sagte er und strich mit sanftem Abscheu über das Fell, »und ich stimme dir zu, dass es nicht normal scheint – was immer es auch sein mag, es hat eine mächtige Wirkung auf diejenigen, die Leck gekannt haben. Halte es den Leuten nicht einfach unter die Nase. Lass es langsam angehen und häng es nicht an die große Glocke, verstehst du, was ich meine?«
»Das ist das Land, wo er herstammt«, sagte Bitterblue. »Das muss es sein, Bo, und das bedeutet, dass ich auch dort herstamme, von einem Ort, wo die Tiere aussehen wie dieses hier und deinen Verstand benebeln, genau, wie er es tat.«
»Möglich«, sagte Bo. Er nahm sie in den Arm. Sein Hemd roch leicht nach Katsas Pelzjacke, was sie tröstete, als würde sie von beiden gleichzeitig umarmt. »Oder es war einfach irgendetwas, wovon er erfahren hat und worüber er verrückte Geschichten erfunden hat. Nimm dir Zeit, Liebes. Du kannst nicht
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