Die Königliche (German Edition)
Sache am Pier, Bo, und mit meinen Wachen, die gesehen haben, dass dich das Boot unbeeindruckt ließ? Bist du sicher, dass niemand Verdacht geschöpft hat?«
Die Frage schien ihn zu ernüchtern. »Ich bin sicher. Sie halten mich nur für seltsam.«
»Es hat wahrscheinlich keinen Zweck, dich zu bitten, vorsichtiger zu sein?«
Er schloss die Augen. »Ich habe schon so lange nicht mehr meine Ruhe gehabt. Ich würde so gerne eine Weile nach Hause.« Er rieb sich die Schläfen und sagte: »Der Mann, mit dem du heute Morgen zusammen warst, dieser Lienid, der nicht in Lienid geboren ist …«
»Bo …«, rief Bitterblue entrüstet.
»Ich weiß«, sagte er, »Liebes, ich weiß, ich habe nur eine unschuldige Frage. Was ist seine Gabe?«
Bitterblue schnaubte. »Er sagt, er wisse es nicht.«
»Ja, klar!«
»Konntest du etwas aus seinen Gefühlen schließen?«
Bo schwieg und überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Gedankenleser haben ein bestimmtes Gefühl an sich, das er nicht hat. Aber ich habe etwas Ungewöhnliches an ihm wahrgenommen. Irgendwas mit seinem Bewusstsein, das ich bei Köchen, Tänzern, deiner Wache oder Katsa nicht spüre. Vielleicht hat er irgendwelche mentalen Kräfte.«
»Könnte es sein, dass er Dinge vorhersieht?«
»Ich weiß es nicht. In Nander habe ich mal eine Frau kennengelernt, die mit ihrem Bewusstsein Vögel ruft und sie beruhigt. Dein Freund – Saf heißt er, nicht wahr? – Saf hat sich ein bisschen wie diese Frau angefühlt, aber nicht ganz.«
»Könnte er eine bösartige Gabe haben wie Leck?«
Bo stieß die Luft aus. »Ich habe noch nie jemanden mit einem Bewusstsein wie Lecks getroffen. Wir wollen hoffen, dass das auch nie geschieht.« Er veränderte seine Position und seinen Tonfall. »Stell mich Saf doch mal vor und dann frage ich ihn, was seine Gabe ist.«
»Na klar, warum nicht? Das käme bestimmt niemandem komisch vor, wenn ich plötzlich mit einem Lienid-Prinzen in der Stadt auftauchen würde.«
»Das heißt, er weiß nicht, wer du bist? Das hatte ich schon vermutet.«
»Ich nehme an, du hältst mir jetzt eine Standpauke, dass man nicht lügen soll.«
Er lachte, was sie zunächst verwirrte, bis ihr einfiel, mit wem sie da sprach. »Ja«, sagte sie, »schon gut. Wie hast du heute eigentlich erklärt, dass du wie ein Verrückter zu meinem Schreibzimmer gerannt bist? Die Spion-Ausrede?«
»Natürlich. Spione erzählen mir immer in aller Vertraulichkeit und im allerletzten Moment irgendwelche Dinge.«
Sie kicherte. »Oh, es ist schrecklich, Bo, die ganzen Lügen, oder? Vor allem Leuten gegenüber, die einem vertrauen.«
Darauf antwortete er nicht, sondern drehte sich wieder zur Mauer, immer noch einen amüsierten Ausdruck im Gesicht, aber daneben noch etwas anderes, das sie verstummen und wünschen ließ, sie wäre nicht so vorlaut gewesen. Bos spezielles Netz aus Lügen war in der Tat nicht besonders lustig. Und je länger es fortdauerte – je intensiver Bo im Rat mitarbeitete, je mehr Leute sein Vertrauen gewannen –, desto weniger lustig wurde es. Die Lüge, zu der er immer griff, wenn er gezwungen war zu erklären, warum er nicht lesen konnte – dass eine Krankheit seine Nahsichtigkeit in Mitleidenschaft gezogen hatte –, war ziemlich unglaubwürdig und sorgte gelegentlich für hochgezogene Augenbrauen. Bitterblue wollte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Schlimm genug, dass er ein Gedankenleser war, aber ein Gedankenleser, der das über zwanzig Jahre lang verschwiegen hatte und in allen sieben Königreichen bewundert und gepriesen wurde? In Lienid geradezu verehrt? Und was war mit seinen engsten Freunden, die nicht Bescheid wussten? Katsa wusste es und Raffin und Raffins Gefährte Bann; Bos Mutter und Bos Großvater. Das waren alle. Weder Giddon noch Helda wussten Bescheid, genauso wenig wie Bos Vater und Brüder. Selbst Skye wusste es nicht und Skye himmelte seinen jüngeren Bruder an.
Bitterblue mochte gar nicht daran denken, wie Katsa reagieren würde, wenn die Leute anfingen, Bo schlecht zu behandeln. Sie würde ihn aufs Fürchterlichste verteidigen.
»Tut mir leid, dass ich dir das, was du heute tun musstest, nicht ersparen konnte, Biber«, sagte Bo.
»Das muss dir nicht leidtun. Ich bin schließlich damit fertiggeworden.«
»Mehr als das. Du warst großartig.«
Im Profil ähnelte er ihrer Mutter sehr. Ashen hatte auch diese gerade Nase gehabt, das Versprechen eines Lächelns um den Mund. Er hatte
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