Die Königliche (German Edition)
Schneeflocken, Boote, Fische. Bitterblue konnte sich daran erinnern, dass ihr das als Kind gefallen hatte: dass Ashens Stickereien sich zum Teil auf Ashens Truhe wiederfanden.
Wie Puzzleteile, die zusammenpassen , dachte sie. Wie etwas, das einen Sinn ergibt. Was ist nur los mit mir?
Sie fand einen weiten roten Bademantel, der zu ihrem Teppich und den Schlafzimmerwänden passte, dann zwang sie sich dazu, zum Fenster zu gehen und auf den Fluss hinunterzuschauen, ohne genau zu wissen, warum. Sie war schon mal mit Ashen aus einem Fenster geklettert. Vielleicht war es sogar dieses Fenster gewesen. Und damals hatten sie kein Seil gehabt, nur zusammengeknotete Leintücher. Unten auf der Erde hatte Ashen mit einem Messer einen Wachmann getötet. Es war nötig gewesen. Er hätte sie niemals vorbeigelassen. Ashen hatte sich an ihn angeschlichen und ihn von hinten erstochen.
Ich musste ihn umbringen , dachte Bitterblue.
Als sie hinausblickte, sah sie weit unten im Schlossgarten Bo, der an einer Mauer lehnte, den Kopf in den Händen vergraben.
Bitterblue ging zum Bett und legte sich hin, berührte mit dem Gesicht Ashens Laken. Kurz darauf stand sie wieder auf, zog ein schlichtes grünes Kleid an und schnallte sich die Messer an die Unterarme. Dann machte sie sich auf die Suche nach Helda.
Helda saß in einem blauen Plüschsessel in Bitterblues Wohnzimmer und schob eine Nadel durch Stoff in der Farbe des Mondes. »Sie sollten doch schlafen, Königin«, sagte sie und warf Bitterblue einen besorgten Blick zu. »Können Sie das nicht?«
Bitterblue ging im Zimmer hin und her und berührte die leeren Regalbretter mit dem Finger, ohne zu wissen, wonach sie überhaupt suchte. Staub fand sie jedenfalls nicht. »Ich kann nicht schlafen. Ich werde verrückt, wenn ich es weiter versuche.«
»Haben Sie Hunger?«, fragte Helda. »Wir haben hier Frühstück gebracht bekommen. Rood selbst hat den Wagen hergeschoben und darauf bestanden, Sie würden es haben wollen. Es ist mir nicht gelungen, ihn abzuwimmeln. Er schien unbedingt etwas tun zu wollen, damit es Ihnen besser geht.«
Mit Speck sah alles gleich entschieden positiver aus. Aber Bitterblue war immer noch zu durcheinander, um schlafen zu können.
Eine unbenutzte Wendeltreppe in der Nähe ihrer Räume wand sich zu einer kleinen Tür hinab, neben der ein Angehöriger der Monsea-Wache stand. Die Tür führte in den Schlossgarten.
Wann war sie zum letzten Mal in diesem Garten gewesen? War sie überhaupt noch mal hier gewesen, seit Lecks Käfige entfernt worden waren? Als sie jetzt den Garten betrat, stand sie der Skulptur eines Wesens gegenüber, das eine Frau zu sein schien, mit menschlichen Händen, Gesicht und Körper, das aber Klauen, Zähne, Ohren und beinahe auch die Körperhaltung eines Berglöwen hatte, der sich auf die Hinterbeine stellte. Bitterblue starrte in die Augen der Frau, die lebendig waren und voller Angst – nicht ausdruckslos, wie sie es von den Augen einer Skulptur erwartet hätte. Die Frau schrie. Ihre Haltung verriet eine große Anspannung – sie streckte die Arme weit aus und hatte Wirbelsäule und Nacken durchgebogen –, als hätte sie wahnsinnige körperliche Schmerzen. Eine echte Ranke mit goldenen Blumen war fest um eins ihrer Hinterbeine geschlungen und schien sie an ihrem Sockel festzubinden. Das ist eine Frau, die sich in einen Berglöwen verwandelt , dachte Bitterblue, und es tut fürchterlich weh .
Hohe Hecken zu beiden Seiten schlossen den Garten ein, der von Bäumen, Ranken und Blumen überwuchert war. Er fiel sanft ab bis zu der niedrigen Steinmauer unten am Fluss. Bo stand immer noch da; die Ellbogen aufgestützt blickte er die langbeinigen Vögel an, die sich auf den Pfählen putzten – oder so wirkte es zumindest.
Als sie auf ihn zuging, ließ er erneut den Kopf in die Hände sinken. Sie verstand. Es war nie besonders schwierig, Bos Gedanken zu lesen.
Am selben Tag, als Bitterblue ihre Mutter verloren hatte, hatte dieser Mann, ihr Cousin, Bitterblue gefunden. In der Höhle eines umgestürzten Baumstammes hatte er sie entdeckt. Er hatte sie in Sicherheit gebracht, indem er in voller Geschwindigkeit mit ihr über der Schulter durch den Wald gerannt war. Er hatte versucht, ihren Vater für sie zu töten, was ihm misslungen war, und war beinahe gestorben – und dabei hatte er sein Augenlicht verloren. Beim Versuch, sie zu beschützen.
»Bo«, sagte sie sanft, als sie neben ihm stand. »Es ist nicht deine Schuld.«
Bo sog die Luft
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