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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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es lässt sich öffnen.«
    Wir sitzen immer noch reglos im Kreis, einige von uns von ihrem getrockneten Blut auf die Bühnenbretter geleimt. Unsere Kleider, der Stoff unserer Roben, Soutanen und Reithosen hält uns an Ort und Stelle fest.
    Mr. Whittier bückt sich, reicht Miss Rotz die Hand und sagt: »Und der Rote Tod hielt grenzenlose Herrschaft über allem ...« Er wedelt mit den Fingern - sie soll sie nehmen - und sagt: »Gehen wir?«
    Und Miss Rotz nimmt die Hand nicht. Sie sagt: »Wir haben dich sterben sehen...«
    Und Mr. Whittier sagt: »Ihr habt eine Menge Leute sterben sehen.«
    Der aufquellende Truthahn Tetrazzini hat seinen Magen von innen aufgebrochen. Er ist schreiend gestorben. Wir haben seine Leiche in roten Samt gewickelt und in den Keller getragen.
    »Nicht ganz«, sagt Mr. Whittier. Mrs. Clark hat ihm geholfen, seinen Tod vorzutäuschen, damit er den Gang der Ereignisse ungestört beobachten konnte. Er hat alles nur beobachtet - die letzte Kamera -, auch als Mrs. Clark sich aus reiner Anteilnahme ein paar Messerstiche versetzte - dabei aber zu gründlich vorging und starb. Auch als Direktorin Dementi die Leiche fand und ein halbes Bein verzehrte. Mr. Whittier hat immer nur zugesehen.
    Direktorin Dementi hebt den Kopf von der Brust. Sie rülpst und sagt: »Er hat Recht.«
    Wieder bückt sich Mr. Whittier und bietet Miss Rotz seine Hand an. Er sagt: »Ich kann dich mit Liebe überschütten. Falls du über unseren Altersunterschied hinwegsehen kannst.«
    Sie ist zweiundzwanzig. Er ist dreizehn - wird in einem Monat vierzehn.
    Graf Schandmaul sagt: »Von dir lassen wir uns nicht befreien. Wir warten hier, bis wir gefunden werden.«
    So sind wir immer, sagt Mr. Whittier. Aus demselben Grund, warum auch die Kinder der Kinder der Kinder unserer Kinder immer noch Krieg und Hunger und Krankheiten erleiden werden. Weil wir unsere Schmerzen lieben. Weil wir unsere Dramen lieben. Auch wenn wir das niemals zugeben werden.«
    Miss Rotz greift nach seiner Hand.
    Und Mutter Natur sagt: »Sei nicht dumm.« Inmitten ihrer Lumpen und Haar sagt sie: »Ich weiß, er hat dich mit diesem Hirnvirus infiziert.« Sie lacht, dass ihre Messingglöckchen bimmeln. Mit Narben und Schrammen bedeckt, sagt sie: »Wie kannst du nur glauben, dass er dich liebt?«
    Miss Rotz' Blick wandert von Mutter Natur über Sankt Prolaps zu Mr. Whittiers Hand.
    »Du hast keine Wahl«, sagt Mr. Whittier. »Wenn du geliebt werden willst.«
    Und Sankt Prolaps sagt: »Er liebt dich nicht.« Sein Gesicht besteht nur aus Zähnen und Augen, als er sagt: »Whittier hat nur die Zerstörung der Welt im Sinn.«
    Mr. Whittier hält Miss Rotz immer noch eine Hand hin; in der anderen schüttelt er den Schlüssel. Er sagt: »Sollen wir gehen?«
    Wenn wir vergeben können, was man uns angetan hat ... Wenn wir vergeben können, was wir anderen angetan haben ...
    Wenn wir alle unsere Geschichten hinter uns lassen können. Ob wir nun die Schurken oder die Opfer waren.
    Erst dann können wir die Welt vielleicht retten.
    Aber wir sitzen nur hier und warten, dass man uns rettet. Wir sind immer noch Opfer und hoffen, entdeckt zu werden, während wir leiden.
    Mr. Whittier schüttelt den Kopf, schnalzt mit der Zunge und sagt: »Wäre das so schlimm? Die zwei letzten Menschen auf der Welt zu sein?« Seine Hand wickelt sich fest um Miss Rotz' schlaffe Finger, und er sagt: »Warum sollte die Welt nicht genau so aufhören, wie sie angefangen hat?« Und er zieht Miss Rotz zu sich hoch.

Beweis
Noch in Gedicht über Mr. Whittier
    »Wie würdet ihr leben?«, fragt Mr. Whittier.
    Wenn ihr nicht sterben könntet.
    Mr. Whittier auf der Bühne, aufrecht steht er
    auf zwei Füßen, nicht gebeugt.
    Nicht zitternd.
    Aus dem Kopfhörer um seinen Hals
    dringt laute Drum'-n'-Bass-Musik.
    Er trägt Tennisschuhe, die Senkel offen, und tappt mit einem
    Fuß.

    Auf der Bühne, statt eines Films, ein Scheinwerfer,
    kein Ausschnitt aus irgendeiner alten Geschichte auf ihn projiziert,
    um ihn zu verbergen. Ein Scheinwerfer so grell, dass seine Falten
    und alle seine Altersflecken nicht zu sehen sind.

    Und uns Gotteskinder hielt er als Geiseln,
    um Gott zu zwingen, sich zu
    zeigen;
    um Gottes Hand zu lenken.
    Und wenn wir genug leiden, wenn wir sterben würden ... wenn
    Whittier uns nur genug quälen
    und hungern lassen könnte: würden wir ihn vielleicht noch im Jenseits hassen.
    Ihn so sehr hassen, dass wir zurückkommen würden, um uns zu
    rächen.

    Wenn wir unter genug Schmerzen stürben

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