Die Kolonie
aber es macht eine Geschichte einfach besser. Nein, wir würden die Wahrheit verbiegen. Dramatisieren. Aufbauschen. Effekthascherei.
Wir würden unsere eigene Inzestorgie von Menschen und Tieren erfinden, damit die Welt was zum Tratschen hat.
Die kleine Garderobe hinter der Bühne, die jeder von uns zugeteilt bekam: Wenn wir davon erzählen, werden wir sie mit giftigen Spinnen bevölkern. Mit hungrigen Ratten. Da wird nicht nur davon die Rede sein, dass alles voll von Direktorin Dementis Katzenhaaren war.
Ein Gespenst. Um die Geschichte aufzupeppen, um Spezialeffekte unterbringen zu können, werden wir ein Gespenst in das alte Theater setzen. Ha, wir werden selbst in diesem Haus spuken und Scharen von verlorenen Seelen darin umgehen lassen.
Wir würden unser Leben zu einem schrecklichen Abenteuer machen. Zu einer wahren Horrorgeschichte mit Happy End. Zu einer schweren Prüfung, die wir überlebt haben, um davon zu erzählen.
Außer Lady Tramp mit ihrem toten Mann an der Hand. Miss America mit ihrem Fötus, der im Schneeballsystem Zelle um Zelle in ihr heranwächst. Und Miss Rotz mit ihrer Schimmelallergie. Wir anderen wollten mehr. Mehr Schmerz und Leid, damit wir später in den Talkshows auspacken konnten. In diesen Sendungen, von denen Miss America erzählt hat. Auch wenn wir keine einzige gute Idee entwickelten und unser Meisterwerk einfach nicht entstehen wollte, konnten diese drei Monate, die wir hier zusammengepfercht waren, immerhin noch für Memoiren reichen. Für einen Film. Für eine Zukunft, in der wir keinen festen Beruf mehr brauchten. Einfach berühmt sein.
Eine Geschichte, die man verkaufen konnte.
Fürs Erste sitzen wir um den Glaskamin und gehen die Einzelheiten durch, die wir brauchen, um diesen Schauplatz im Fernsehen lebendig werden zu lassen. Um den Film bei den Dreharbeiten »authentisch« zu gestalten. Die Geschichte unserer Entführung und Gefangenschaft, und wie Miss Rotz mit jedem Tag kränker und das Baby in Miss America immer größer wurde.
Niemand wird das offen sagen, aber Miss Rotz' Ableben wäre der perfekte Höhepunkt für den dritten Akt. Der Moment schlimmster Verzweiflung für uns alle.
Der perfekte Schluss sähe so aus: Nach Ablauf des Mietvertrags stolpert gerade noch rechtzeitig der Hauswirt herein und rettet die kränkliche Miss America. Die verrückte Lady Tramp. Einige von uns kämen blinzelnd und weinend ans Tageslicht gehumpelt. Die anderen würden auf Tragen herausgeholt und mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Dann ein Schnitt, und der Film zeigt uns alle an Miss Americas Bett, die gerade ihr Kind gebiert. Wieder ein Schnitt, und man sieht uns bei Miss Rotz' Beerdigung. Das Gespenst der armen Miss Rotz, geopfert, um die Story tragischer zu machen.
Agent Plaudertasches Videoaufnahmen würden uns eine Hilfe sein. Ebenso die Tonkassetten von Graf Schandmaul.
Um das Ganze abzurunden, würde Miss America ihr Neugeborenes Miss Rotz nennen, oder wie auch immer ihr Vorname gewesen sein mag. Der Kreis hätte sich geschlossen. Der Kreislauf des Lebens. Die arme zarte Miss Rotz.
In der Drehbuch-Roman-T-Shirt-Geschichte würden wir alle Miss Rotz lieben... ihre enorme Tapferkeit... ihren sonnigen Humor.
Seufz.
Nein, falls nicht einer von uns mit einem neuen Frankenstein oder Dracula anrückt, wird unsere eigene Geschichte noch sehr viel dramatischer sein müssen, ehe wir sie verkaufen können. Alles müsste noch sehr sehr viel schlimmer werden, bevor es vorbei ist.
Schluss mit der Vorstellung, irgendetwas Originelles zu machen. Sinnlos, irgendwas Anspruchsvolles schreiben zu wollen. Viel zu viel Mühe für das bisschen Geld, das man dafür kriegt.
Besonders, wenn man es noch durch siebzehn teilen muss. Die Tantiemen. Durch sechzehn, wenn man die zum Sterben verurteilte Miss Rotz abzieht.
Wir alle schweigen, befehlen ihr aber: Huste.
Mach schon, stirb schon.
Nein, als die anderen dieses Treffen im Cafe verließen, waren wir die Schlauen. Ja, die Sache schien ziemlich hirnrissig, ein Wagnis, das uns nur Ärger einbringen konnte, aber, hey die Sache sah aus wie ein hirnrissiges Wagnis, das einen Haufen Geld abwerfen könnte.
Wir alle sitzen hier und schweigen, befehlen Miss Rotz aber: Huste.
Deswegen hat Reverend Gottlos alle Feuermelder lahm gelegt. Gleich in der ersten Stunde nach unserem Eintreffen. Jedenfalls hat er das dem Kuppler so erklärt. Gottlos war beim Militär zum Elektriker ausgebildet worden, und Missing Link half ihm und hielt die Taschenlampe.
Weitere Kostenlose Bücher