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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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sagte er.
    An einem dieser Abende befindet sich Evelyn auf einem Wohltätigkeitsball gegen Darmkrebs, als ihr Handy klingelt. Es ist Inky, und im Hintergrund schreit ein Mann. Packers Stimme. Inky atmet schwer ins Telefon und sagt: »Muffy, bitte. Muffy, bitte, wir haben uns verlaufen, und jemand ist hinter uns her.« Sie sagt: »Wir haben es bei der Polizei versucht, aber...« Das Gespräch bricht ab.
    Als ob sie in einen Tunnel gelaufen ist. Unter eine Unterführung.
    Die Schlagzeile am nächsten Tag lautet: »Verlegerin und Textilgeschäftsführer erstochen aufgefunden«
    Von da an gilt es fast jeden Morgen, einer Schlagzeile auszuweichen:
    »Obdachlose Frau ermordet aufgefunden« Oder: »Killer tötet wieder Bettler«
    Jede Nacht ist das schwarze Auto irgendwo unterwegs, immer auf der Suche nach Mrs. Keyes, der einzigen Zeugin eines Verbrechens. Jemand ermordet jeden auf der Straße, der ihr ähnelt. Jeden, der Lumpen trägt und unter einem Haufen Decken schläft.
    Und jetzt geht Evelyn auf Radikalentzug. Sie kündigt das Zeitungsabonnement. Für den Fernseher kauft sie das Aquarium mit einer Echse, die passend zu jedem Anstrich die Farbe verändert.
    Heutzutage ist Mrs. Keyes das Gegenteil von obdachlos. Sie hat zu viel Obdach. Das Obdach ist ihr eine Last. Es begräbt sie. Sie liest ihre Kataloge. Betrachtet die Hochglanzbilder von Gartenzwergen. Diamantenschmuck aus den Resten eingeäscherter Angehöriger.
    Natürlich vermisst sie ihre Freunde. Ihren Mann. Aber wie hätte Inky gesagt: Abwesenheit ist die neue Anwesenheit.
    Und sie kauft immer noch Karten für Wohltätigkeitsveranstaltungen. Stille Auktionen und Ballettdarbietungen. Sie braucht das Bewusstsein, etwas zu tun, das die Welt ein wenig besser macht. Als Nächstes würde sie gern mit gefährdeten Grauwalen schwimmen gehen.
    Unterm Laubdach eines schwindenden Regenwaldes schlafen.
    Ein paar aussterbende Zebras fotografieren. Ököpenner. Bewusstsein ist wichtig. Sie will immer noch etwas bewirken.

5
    In jenem Sommer waren nur fünf Leute in der Villa Diodati, erzählt uns Mrs. Clark:
    Der Dichter Lord Byron.
    Percy Bysshe Shelley und seine Geliebte, Mary Godwin.
    Marys Halbschwester, Ciaire Claremont, die von Byron schwanger war.
    Und Byrons Arzt, John Polidori.
    Wir sitzen um den elektrischen Kamin im Raucherzimmer der zweiten Galerie, im gotischen Raucherzimmer. Jeder von uns hat von irgendwo ein Sitzmöbel hergeschleift, mit gelbem Leder bezogene Ohrensessel, Sofas mit Stickereien oder Zweisitzer mit Gobelinbezug, und die geschnitzten Beine haben in den verfilzten Teppichen krumplige Spuren hinterlassen.
    Wir sind fast vollzählig, es fehlt nur Lady Tramp, die früh zu Bett gegangen ist. Und Miss America, die mal wieder Schlösser knackt.
    Der elektrische Kamin ist nur ein rotierendes Licht unter einer Schicht zusammengeleimter gelber und roter Glasbrocken. Licht ohne Wärme. Die hängenden Kristallbäume sind nicht an, und das rotgelbe Licht tanzt auf unseren Gesichtern, huscht über die Holzvertäfelung und den gefliesten Boden.
    Nur diese fünf Leute, sagt Mrs. Clark, Shelley und Co., vom Regen ins Haus verbannt. Aus Langeweile lasen sie sich abwechselnd aus Fantasmagoriana vor, einer Sammlung deutscher Gespenstergeschichten.
    »Lord Byron«, sagt Mrs. Clark, »konnte das Buch nicht ausstehen.«
    Byron sagte, in dem Zimmer sei mehr Talent versammelt als in dem Buch, das sie da läsen. Er sagte, jeder von ihnen könne eine bessere Horrorgeschichte schreiben. Und das sollten sie auch tun. Eine Geschichte schreiben.
    Das war fast ein Jahrhundert vor Bram Stokers Dracula, aber aus jenem Sommer stammt Dr. John Polidoris Buch Der Vampir, auf das unsere heutige Vorstellung von Blut saugenden Dämonen zurückgeht.
    In einer dieser Regennächte mit Blitz und Donner über dem Genfer See hatte die achtzehnjährige Mary Godwin den Traum, der zur Geschichte von Frankenstein werden sollte. Beide Monster wurden zur Basis zahlloser Bücher und Filme.
    Auch die Gruppe selbst wurde zur Legende. An den Ufern des Genfer Sees stellten die Urlaubshotels Teleskope in die Fenster mit Seeblick, damit die Gäste die Inzestorgie beobachten konnten, die sich nach allgemeiner Überzeugung in der Villa fortwährend abspielte. Bürgerliche Touristen, die sich in ihrer Sommerfrische langweilten, projizierten ihre schlimmsten Ängste auf Lord Byrons vier Wände. Es war bloß eine Hand voll junger Leute, die sich den erdrückenden Regeln ihrer Kultur zu entziehen versuchten,

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