Die Kolonie
Autofahren lernen und in Wäschereien schuften und sich allmählich bis in die untere Mittelschicht hocharbeiten.
Nachts liegen Packer und Evelyn unter irgendeiner Brücke oder auf einem Stück Pappe auf einem dampfenden, warmen Kanaldeckel, und während Fremde an ihnen vorbeihasten, bringt er sie, seine Hände in ihren Klamotten, zum Höhepunkt, und noch nie waren die beiden so verliebt.
Aber Inky hat Recht. Das kann nicht ewig so weitergehen. Das Ende kommt so schnell, dass sie erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren, was genau eigentlich geschehen ist.
Sie schlafen im Eingang eines Lagerhauses, und nicht einmal in Banff oder Hongkong haben sie sich jemals so wohl gefühlt. Ihre Decken riechen längst wie sie beide. Ihre Kleider - ihre Körper - fühlen sich an wie ein Haus. Packers Arm um den Leib seiner Frau könnte ein Zweifamilienhaus an der Park Avenue sein. Eine Villa auf Kreta.
In dieser Nacht hält ein schwarzes Auto am Straßenrand, Bremsen quietschen, ein Reifen gerät auf den Bordstein. Die Scheinwerfer, zwei Kreise greller Fernlichter, sind auf Mr. und Mrs. Keyes gerichtet und wecken sie. Die hintere Tür geht auf, und Schreie ertönen aus dem Innern. Mit dem Kopf voran, Hände und Arme fuchtelnd, fällt ein Mädchen auf den Bürgersteig. Lange schwarze Haare verdecken ihr Gesicht, sie ist nackt, und sie krabbelt auf allen vieren vom Auto weg.
Packer und Evelyn, begraben in ihrem Haus aus alten Lumpen und feuchten Decken. Das nackte Mädchen kriecht auf sie zu.
Hinter ihr kommt ein schwarzer Herrenschuh aus der Autotür. Es folgt ein dunkles Hosenbein. Ein Mann mit schwarzen Lederhandschuh steigt hinten aus, das Mädchen rappelt sich hoch und schreit. Kreischt: Bitte. Schreit um Hilfe. So nah, dass man ein, zwei, drei goldene Ringe in einem Ohr sehen kann. Das andere Ohr ist weg.
Was aussieht wie ein langer, dunkler Zopf, ist in Wirklichkeit Blut, das ihr den Rücken runterläuft. Wo das Ohr war, sind nur noch Hautfetzen.
Das Mädchen erreicht die Keyes', von denen nur die Augen zwischen den Decken zu erkennen sind.
Als der Mann das Mädchen an den Haaren packt, greift sie nach den Lumpen. Als der Mann sie hochhebt und das strampelnde, heulende Bündel zum Auto trägt, zieht sie die Decken hinter sich her, und nun sieht man die beiden verschlafen in die grellen Scheinwerfer blinzeln.
Der Mann muss sie doch sehen. Wer da am Steuer sitzt, muss sie doch sehen.
Das Mädchen kreischt: »Bitte«. Sie kreischt: »Das Kennzeichen ...« Und wird wieder ins Auto gezerrt. Die Tür schlägt zu, die Reifen quietschen auf und hinterlassen nur das Blut des Mädchens und schwarze Gummispuren. Im Rinnstein, fallen gelassen oder im Kampf fortgeschleudert, funkelt zwischen Pappbechern ein bleiches Ohr mit zwei goldenen Ringen darin.
Beim Frühstück auf ihrem Zimmer im Sheraton, Omelett mit fettigen Pilzen, pappige Brötchen, lauwarmer Kaffee und kalter Speck, erfahren sie es aus der Zeitung. Im Lokalteil. Eine brasilianische Ölerbin wurde entführt. Das Foto zeigt das nackte Mädchen mit den langen, dunklen Haaren von letzter Nacht, nur dass sie hier lächelt und eine Trophäe mit einem kleinen goldenen Tennisspieler in den Händen hält.
Der Zeitung zufolge hat die Polizei keine Zeugen gefunden.
Natürlich könnten die Keyes' eine Aussage machen, aber genau genommen haben sie ja gar nichts gesehen. Kein Gesicht. Auch nicht das Kennzeichen des Autos. Nur das Mädchen haben sie gesehen. Das Blut. Packer und Evelyn wären keine echte Hilfe. Wenn sie zur Polizei gehen, können sie nur sich selber demütigen. Schon kann man sich die Schlagzeilen vorstellen:
»Reiches Paar sucht Glück als Penner«
Oder: »Milliardäre machen auf arme Schlucker«
Gott behüte, dass sie Inky und Scott, Skinny und Shoe und Bones davon erzählen.
Sich zum Gespött der Leute zu machen würde dieses arme Mädchen auch nicht retten. Geteiltes Leid wäre kein halbes Leid.
Die Woche darauf meldete die Zeitung, dass die entführte Erbin tot aufgefunden wurde.
Trotzdem, Inky blieb gelassen. Arme, schmutzige Leute kann auf der Straße nichts schrecken. Das ermordete Mädchen war jung. Sah sauber aus, hübsch und reich. »Nichts zu verlieren haben«, sagte Inky, »ist der neue Reichtum.«
Und Packer sagte: »Nicht immer, aber immer öfter.«
Nein, Inky dachte gar nicht daran, auf ihr Glück zu verzichten und wieder reich und berühmt zu sein. Und immer öfter begleitete Packer sie in diesen Nächten. Um sie zu beschützen,
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