Die Kolonie
Köpfen. Bis hierhin ergäben die Ereignisse noch keinen guten Witz. All diese Idioten, die hier in die Falle gegangen sind. Der Rädelsführer kriegt Blähungen, und uns gelingt die Flucht. So kann das unmöglich was werden.
Schon hat Mutter Natur den Plan gefasst, ihr Halsband aus Messingglöckchen abzunehmen und ihm heimlich etwas Wasser zu geben.
Direktorin Dementi plant, mit Cora Reynolds an seinem Zimmer vorbeizugehen und dabei einen großen Krug Wasser hineinzuschmuggeln.
Missing Link sieht sich die ganze Nacht lang auf Zehenspitzen in Mr. Whittiers Garderobe schleichen und ihm Wasser in den Hals löffeln, bis der Mann mit einem großen Knall platzt.
»Bitte, Tess?«, sagt Mr. Whittier. Er sagt: »Würdest du mir ins Bett helfen?«
Und wir alle notieren im Kopf: Tess und Brandon, unsere Kerkermeister.
»Schnell, auf die Bühne... Mir ist kalt«, sagt Mr. Whittier, während Mutter Natur ihm auf die Beine hilft.
»Vermutlich Schock«, sagt Sankt Prolaps.
In der Version, die wir verkaufen werden, ist er schon geliefert. Ein Schurke wird sterben, und seine Schurkin wird uns rasend vor Zorn weiter quälen. Tess, die uns gefangen hält. Uns nichts zu essen gibt. Uns zwingt, in schmutzigen Lumpen herumzulaufen. Uns, ihre unschuldigen Opfer.
Sankt Prolaps steht auf und legt einen Arm um Mr. Whittier. Mutter Natur hilft. Mrs. Clark folgt mit ihrem Glas Wasser. Graf Schandmaul mit seinem Diktiergerät. Agent Plaudertasche mit seiner Videokamera.
»Vertraut mir«, sagt Sankt Prolaps. »Mit dem menschlichen Körper kenne ich mich zufällig sehr gut aus.«
Als ob wir ihren Tod noch nötig hätten, niest Miss Rotz in ihre Faust. Miss Rotz, das künftige Gespenst dieses Hauses.
Genossin Snarky wischt sich die versprühten Tropfen vom Arm und sagt: »Krass!« Sie sagt: »Bist du in einer Plastikblase aufgewachsen oder was?«
Und Miss Rotz sagt: »Ja, so ungefähr.«
Der Kuppler entschuldigt sich, er sagt, er ist müde und braucht endlich etwas Schlaf. Und schleicht sich in den Keller, um den Heizkessel zu sabotieren.
Er konnte das nicht wissen, aber der Herzog der Vandalen ist ihm bereits zurvorgekommen.
Wir anderen bleiben auf den schimmligen Seidenpolstern und Kissen unter der Kuppel aus Tausendundeiner Nacht. Die Mylar-Tüte Truthahn Tetrazzini auf dem Teppich, leer. Die Elefantensäulen.
Im Kopf notieren wir alle die Zeile: Mit dem menschlichen Körper kenne ich mich zufällig sehr gut aus ...
Und mehr geschieht nicht. Mehr Nichts geschieht.
Bis wir unsere Beine entknoten und uns den Staub von den Kleidern klopfen. Wir gehen in den Zuschauersaal und drücken die Daumen, dass wir Mr. Whittiers letzte Worte zu hören bekommen.
Erosion
Ein Gedicht über Mr. Whittier
»Dieselben Fehler, die wir als Höhlenmenschen begangen haben«,
sagt Mr. Whittier, »begehen wir noch heute.«
Vielleicht also wird von uns erwartet, dass wir einander bekämpfen
und hassen und quälen ...
Mr. Whittier mit seinen fleckigen Händen, seinem kahlen Kopf,
schiebt seinen Rollstuhl an den Bühnenrand.
Die schlaffe Haut seines Gesichts scheint von seinen
zu großen Augen herabzuhängen, seinen trüben, wässrig grauen
Augen.
Der Ring in einem seiner Nasenlöcher, der Kopfhörer
seines CD-Players um die Furchen und Falten seines
Dörrfleischhalses geschlungen.
Auf der Bühne, statt eines Scheinwerfers, ein
Schwarzweißfilmausschnitt:
Mr. Whittiers Schädel ist tapeziert mit marschierenden Soldaten
einer Wochenschau.
Mund und Augen überschattet von Stiefeln und
Bajonetten, die über seine Wangen ziehen.
Er sagt: »Vielleicht sind Leid und Elend der Sinn des Lebens.«
Man stelle sich vor, die Erde ist eine Maschine, eine Fabrik. Man
denke sich
eine Trommel, wie sie zum Schleifen von Steinen benutzt wird.
Eine rotierende Trommel, gefüllt mit Wasser und Sand.
Dort hinein werden die Seelen geworfen wie hässliche Steine,
wie irgendein Rohstoff, ein natürliches Material, Erdöl oder
Erz.
Und alle Konflikte und Schmerzen sind nur die Schleifmittel, die uns
polieren, die unsere Seelen veredeln,
die uns, Mensch für Mensch, belehren und zur Vollendung führen.
Dann stelle man sich vor, man sei dazu bestimmt, dort immer und
immer wieder hineinzuspringen,
in dem Wissen, dass das Leiden der einzige Grund ist,
dass man zur Welt kommt.
Mr. Whittier, sein schmaler Kiefer mit zu vielen Zähnen bestückt,
seine Augenbrauen ein verdorrtes Gestrüpp, seine Ohren abstehend
wie Fledermausflügel,
sein Gesicht,
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