Die Kolonie
ich möchte nicht, daß sie ohne mich
fährt.
- Das Tagebuch des William Palmquist
25. Kapitel
Gib’s schon zu, altes Mädchen, du bist und bleibst
ein Masochist.
Evelyn saß in der Vesuvio-Bar, wo die Dekoration aus
dreidimensionalen holografischen Ansichten früherer
Vesuvausbrüche bestand, wo man auch hinschaute. Hier war es ein
rotglühender Lavastrom, der unerbittlich ein Dorf unter sich
begrub, dort wirbelten Felsbrocken von der Größe eines
Hauses durch die Luft, die der Krater des Vulkans aus seinem Schlund
spie.
Evelyn interessierte sich wenig dafür, während sie in
der abgedunkelten, lärmerfüllten Bar an ihrem Drink nippte.
Die meisten Gäste waren Italiener, Neapolitaner, die viel lieber
sangen als sprachen und lieber debattierten als sangen. Die Barkeeper
unterhielten sich mit den Kellnern, die Kellner mit den Gästen
und die Gäste untereinander – und das alles mit
äußerster Lautstärke und mit Gesten untermalt, die
dem Dirigenten eines Symphonieorchesters zur Ehre gereicht
hätten. Hier kriegst du eine drauf, wenn du nur über das
Wetter sprichst, dachte Evelyn.
Doch sie saß an der Bar und war von Schweigen umhüllt.
All die Geräusche und das lebhafte Treiben um sie herum waren
wie ausgesperrt. Sie war in ihre Gedanken versunken.
Sie sind in Argentinien gelandet. Wenn ich dorthin fliege,
werden sie noch da sein, wenn ich eintreffe? Werden es die
Argentinier zulassen, mit David zusammenzutreffen? Oder etwa die
RUV-Entführer zu interviewen? Und wie soll ich hinkommen? Soll
ich mir von Charles Geld borgen? Er wird sicher eine Gegenleistung
erwarten.
Sir Charles’ Bisexualität störte sie nicht weiter.
Was er mit anderen trieb, war nicht ihre Sache. Aber der Mann war ein
Masochist, und sein ständiges inniges Begehren nach Bestrafung
stieß Evelyn ab. Zwei Masochisten können keinen
Spaß miteinander haben, dachte sie. Selbst dann nicht, wenn
sich der Masochismus ihrerseits strikt auf ihren Beruf
beschränkt. Man muß einfach zum Masochisten werden, um
Journalist bleiben zu können. Eine andere Erklärung gibt es
nicht.
»Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
Evelyn schaute überrascht auf und erblickte einen
dunkelhäutigen, stiernackigen jungen Mann, der neben ihrem Stuhl
stand. Er sah nicht nach einem Italiener aus, obwohl er die gleichen
Hosen und das gleiche ärmellose Hemd trug wie die anderen.
»Ich wollte gerade aufbrechen«, sagte sie.
Er legte ihr die Hand aufs Handgelenk, sanft und leicht, aber doch
fest genug, um sie am Aufstehen zu hindern.
»Sie sind die englische Reporterin, die die Entführer
interviewen will, nicht wahr?«
Er hat keinen italienischen Akzent. »Was bringt Sie
auf den Gedanken…«
»Wir haben Sie während der letzten paar Tage beobachtet.
Bitte, wir wollen Ihnen nichts antun. Trinken Sie ein Glas mit mir.
Vielleicht können wir Ihnen helfen.« Er winkte dem
Barkeeper, der mit zwei Kellnern lauthals über das mögliche
Schicksal der Entführer debattierte.
»Dasselbe noch mal für die Dame, und mir bringen Sie
einen Eiskaffee.«
Der Barkeeper schaute ihn befremdet an und holte sich zwei
Gläser.
»Sie sind Araber«, sagte Evelyn.
»Kurde. Sie können mich Hamud nennen. Den Ihren kenne
ich schon. Sie sind Evelyn Hall.«
»Ja.«
»Und Sie möchten Scheherazade und die anderen
interviewen.«
»Ja.«
Hamud nickte. »Ich kann Sie zu ihnen bringen.«
»Nach Argentinien?«
»Sie ist nicht mehr in Argentinien. Sie und einer der
Passagiere sind dem falschen Revolutionär El Libertador entkommen.«
»Welcher Passagier?« fragte Evelyn und spürte, wie
ihr Herz zu rasen begann. »Wo sind sie jetzt?«
»Sie sind unterwegs nach Norden. Der Mann, der sie begleitet,
will anscheinend nicht nach Hause zurückkehren. Ich glaube, er
kommt von Eiland Eins.«
Evelyn streckte die Hand nach ihrem Glas aus und fragte: »Und
Sie wollen die beiden irgendwo treffen?«
»Ja, das will ich. Möchten Sie mitkommen, um
Scheherazade kennenzulernen?«
»Aber sicher!«
»Sie müssen genau das tun, was ich Ihnen sage, und
müssen mit uns leben. Kein Wort an irgend jemand, bevor ich es
nicht gestatte.«
Sie nickte beflissen. »Geht in Ordnung.«
»Sie werden in Gefahr sein. Und wenn Sie versuchen, uns zu
hintergehen, wird die RUV Sie vernichten.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich verstehe.« Der Traum eines Masochisten wird wahr.
Gamal Al-Hazimi kam sich gespannt vor wie ein Panther, der auf der
Lauer liegt, während der Hubschrauber gegen die
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