Die Kommissarin und der Tote im Fjord
über die Notausgänge austrickste. Aber er kam ihr hinterher und holte sie ein, kurz bevor sie entwischen konnte. Es gab einen Kampf. Er verletzte sie. Vielleicht tötete er sie. Jedenfalls verletzte er sie so sehr, dass sie stark blutete. Als das Licht eingeschaltet wurde und der Verkehr stillstand, riss er ein Kabel herunter und löste einen Kurzschluss im Bombenschutzraum aus. Der Tatort lag im Dunkeln. Er versteckte sich mit ihr. Als der Strom wieder eingeschaltet wurde, warf er sie vor den ersten Zug, der vorbeikam.
Tja – diese Theorie war möglicherweise wasserdicht. Aber wenn es sich so verhalten hatte, blieb noch die Frage, warum er sie vor den Zug geworfen hatte.
Hatte er sie nur verletzt und wollte es deshalb dem Zug überlassen, die Arbeit zu vollenden? Oder war sie schon tot? Hatte er versucht, einen Mord als Selbstmord zu tarnen? Aber wiederblieb die Frage: Wozu? Wozu so viel Aufwand? Wenn er sie vor dem Notausgang getötet hatte, hätte er sie schließlich dort liegen lassen und sofort durch die Tür verschwinden können. Es musste einen Grund dafür geben, warum er sich entschied, sie stattdessen vor den Zug zu werfen.
Was wäre geschehen, wenn er sie vor der Tür hätte liegen lassen? Sie wäre von den Wachmannschaften gefunden worden. Wenn sie noch lebte, hätte sie erzählen können, was geschehen war. Wenn sie tot war, wäre sofort ein Mordalarm ausgelöst worden – und der Täter konnte nicht wissen, ob die Überwachungskameras ihn aufgenommen hatten. Das konnte vielleicht eine Erklärung sein.
Gunnarstranda rieb sich die Augen. Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Ein paar Sekunden lang sah er es nur an. Seufzte schwer. Dann nahm er den Hörer ab.
»Gunnarstranda?« Es war die Stimme von Iqbal von der Fahndungstruppe.
»Ja.«
»Du wolltest doch wissen, wo sich Stig Eriksen aufhält. Jetzt gerade sitzt er auf der Fußgängerbrücke zwischen Bahnhof und Hotel Plaza und bettelt.«
Gunnarstranda bedankte sich und legte auf. Er zog sich die Jacke an.
Das Dröhnen der Bohnermaschine wurde immer lauter. Aber es war nicht die Putzfrau, die in der Tür erschien, sondern Fartein Rise.
»Habe gehört, dass du Überwachungskameras gecheckt hast und durch die Tunnel gelaufen bist«, sagte Rise.
Gunnarstranda nickte.
»Ich hätte gern eine Kopie deines Berichts«, sagte Rise.
Gunnarstranda sah ihn fragend an.
»Rindal hat mir erklärt, dass du diese Untersuchungen leitest und dass wir beide zusammenarbeiten sollen, aber um dashinzukriegen, muss ich schon sehen, was du bis jetzt gemacht hast.«
»Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dass das Gleiche auch für mich gilt?«
Rise reichte ihm einen Stapel Papier. »Hier.«
Gunnarstranda machte keine Miene, den Stapel entgegenzunehmen. »Habe ich richtig gehört, dass du nach dem Unfall mit dem Sicherheitsdienst der T-Bahn gesprochen hast?«, fragte er.
Rise nickte. »Sie haben gesagt, sie hätten die Tunnel durchsucht, aber das kann nicht stimmen. Schließlich war sie ja da drinnen, die ganze Zeit.«
»Bist du die Schienen entlanggegangen?«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Zum Beispiel um herauszufinden, wie es passieren konnte, dass das Sicherheitspersonal dort langgehen konnte, ohne jemanden zu sehen, obwohl doch jemand da war.«
Rise blinzelte. »Wie gesagt, ich würde gern deinen Bericht lesen und mir die Überwachungsfotos ansehen«, sagte er tonlos.
Gunnarstranda ging an Rise vorbei auf den Korridor. Er drehte sich um und zeigte auf seinen Schreibtisch. Dort lagen ein Haufen verstreuter Blätter und Akten. »Liegt alles da. Und wo du schon mal da bist, kannst du es gleich aufräumen. Das wäre sehr nett.« Er ging drei Schritte, dann hielt er abrupt inne, drehte sich noch einmal um und hob einen Finger. »Eins noch …«
»Ja?«
»Du findest vielleicht den Bericht und die CD. Aber was du suchst, wirst du nicht finden.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Ich spreche aus Erfahrung.« Gunnarstranda lächelte. »Morgen Vormittag werden wir unsere Uhren synchronisieren, wie es die Literaten ausdrücken. Ich glaube, dass dieser Fall vielmehr zu bieten hat als einen Selbstmord.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging den Korridor entlang.
»Morgen ist Samstag«, rief Rise ihm hinterher.
Gunnarstranda hielt noch einmal inne und drehte sich um.
»Rindal hat gesagt, er hätte dich informiert. Ich fahre jedes Wochenende nach Bergen zu meiner Familie.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Der Flieger geht in drei
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