Die Kornmuhme (German Edition)
wurde.
Wind fegte durch die Gräser und umspielte Davids zerschundenen Körper. Und
plötzlich stand es über ihm – ein riesenhaftes, edles Geschöpf, hoch wie ein
Baum, der gigantische Kopf halb menschlich, halb der eines Ziegenbocks. Mit
einem grauen Umhang, der aussah, als sei er aus Wolken und dichtem Nebel
gewebt. Geschwungene Hörner prangten auf seiner Stirn, und sein wildes, weißes,
zotteliges Haar, das unter seinem mächtigen braunen Hut hervorlugte, wehte im
Wind, als bestünde es aus Nebelschwaden. Sein mächtiger, weißer Bart ließ David
die scharfkantigen Zähne des Hünen nur erahnen. Blut lief nun auch in Davids
linkes Auge und Zagels Silhouette begann zu verschwimmen. Er hatte keine Angst
mehr. In ihn trat eine eigenartige, tiefe Ruhe ein.
>>Zagel<<, hauchte
David abermals und blinzelte. >> Ich komme im Auftrag von dem Urmitzer
Aron - Sohn von Farold. <<
Zwar ging seine Stimme im
abebbenden Sturm unter, aber er wusste, dass der Waldgeist jedes einzelne Wort
verstehen würde.
>>Er fordert dich zu einem
Wettkampf heraus. <<
Zagel stieß ein verwundertes
Murmeln aus und bückte sich dann herab.
>>Er braucht aber deine
Hilfe, um den Weg aus dem Wald der Gryla heraus zu schaffen<<, flüsterte
David, der fühlte, wie seine Kräfte schwanden.
>>Hah! <<, lachte
Zagel, und seine tiefe Stimme grollte wie Donner und fand seinen Wiederhall
weit oben in den Wolken, so dass ein Bauer im Anderstal an ein Gewitter dachte
und die Tiere in die Ställe trieb.
Eine Schaar Raben erhob sich
kreischend aus den Baumkronen über ihnen, und David sah die Tiere wie schwarze,
hässliche Schlieren am blauen Firmament entlang ziehen. Dann kam das finstere
Gesicht Zagels in sein Blickfeld, und die Sonne erlosch wieder. >>So sei
es<<, raunte dieser mit triumphierender Vorfreude.
Über das Gesicht des Jungen
huschte ein leises Lächeln. Dann starb er.
8
Als der Himmel sich immer weiter
verdunkelte und Schwärze heraufzog, begriff auch der letzte Urmitzer, dass die
Gryla verärgert war. Zwar war es später Nachmittag, aber diese Dunkelheit war
nicht normal. Viele bezogen es jedoch auf Gerolf. Die Urmitzer hatten nicht
gemerkt, dass der Sohn Reinulfs sich auf den Weg gemacht hatte, geschweige
denn, dass er es geschafft hatte, den Raunewald zu verlassen. Sie fürchteten
Gryla am Tag und in der Nacht. Am Tage befand sie sich in einem
schlafähnlichen Zustand. Ihr rastloser Geist jedoch streifte im Wald umher und
bekämpfte jeden Wanderer mit grausamen Trugbildern. Alles, was außerhalb des
Waldes geschah, entzog sich allerdings ihrer Kenntnis.
Ansgar fluchte und schimpfte vor
sich hin, da er am helllichten Tag fast die Hand vor Augen nicht mehr sehen
konnte und so zurück zur Wirtschaft eilen musste. Er würde dem wandernden Wolf
wohl doch noch von der guten Wurst aus der Vorratskammer geben müssen, wenn er
nicht bald etwas erlegte.
Ranja saß mit ihrer Mutter am Feuer.
Auch sie hatten die plötzliche Dunkelheit draußen bemerkt und hatten das
eigenartige Gefühl, dass die Schwärze vor ihrem Fenster zu ihnen hinein starren
würde. Nicht nur das Licht draußen schien immer weniger zu werden, auch das
Lagerfeuer schien plötzlich ohne Kraft zu sein. Oder war sogar schon etwas von
der Schwärze da draußen hier hineingekrochen? War etwas hier drinnen das sie
beobachtete?
Schon längst waren die anderen
Urmitzer in ihre Hütten zurückgekehrt. Die Brüder oben auf dem Hügel befürchteten
sogar, dass die Gryla den Tag zur Nacht machen würde, damit sie leibhaftig
umherwandeln könne, und verbarrikadierten Türen und Fenster. Das war ihrer
Meinung nach schon einmal geschehen, vor sieben Jahren, als sie Arons Brüder
getötet hatte, deren qualvolle Todesschreie alle noch in grausiger Erinnerung
hatten und die am Tage genauso qualvoll klangen wie des nachts. Sie wussten
nicht, dass es für Gryla unmöglich war, am Tag zu erscheinen, und auch nicht,
dass eigentlich genau diese Angst ihr machtvollstes Instrument war. Gryla
nährte die Ängste der Urmitzer. Ohne es zu wissen, war die Angst der Urmitzer
vor ihr das, was Grylas Macht seit Jahrhunderten aufrecht erhielt.
Lioba bebte, und Ranja beobachtete
sie nun erst recht mit wachsender Sorge.
>> Was ist Mutter? <<,
fragte Ranja. Lioba antwortete nicht.
Wie konnte sie ihrer Tochter
erklären, dass sie den Tod ihres Sohnes gespürt hatte. Dass sie gefühlt hatte,
wie das Band zwischen ihm und ihr abrupt zerrissen war. Reinulf hatte sich
nebenan zu seinen Waffen
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