Die Kornmuhme (German Edition)
nehmen. Ich habe die
letzten Tage nur trockenes Brot gehabt und fühle mich schwach. Wir werden
morgen ein Dorf suchen! <<
>>Wir können genauso gut
jagen! <<, stänkerte Sonnwin.
>>Jagen?! Wie lange soll das
dauern? Bis dahin bin ich verhungert. Und von den paar kleinen Tierchen, die du
fängst, werde ich nicht satt! <<
Er hatte sich so richtig in Rage
geredet, und Sonnwin musste sich nun alles anhören, was Aron auf der Seele lag.
Dass Sonnwin schließlich gar nicht ahnen konnte, was er in den letzten Jahren
durchgemacht hatte, wie dramatisch seine Flucht gewesen war, und was es
bedeutete, in Urmitz aufgewachsen zu sein.
Als sein Wutausbruch abebbte, sah
der Zwerg ihn stumm an. Vielleicht kam ihm zum ersten Mal der Gedanke in den
Kopf, dass Menschen möglicherweise doch nicht einfach nur dumm waren.
Vielleicht waren sie manchmal auch einfach nur verzweifelt und hilflos, so wie
dieser Junge vor ihm, der ihn – natürlich um einiges größer – irgendwie an
seinen jüngsten Sohn erinnerte. Er überging Arons Worte und begann einfach ein
neues Thema.
>>Wir werden jetzt noch ein
wenig schlafen, und dann machen wir uns auf den Weg. Wir gehen gen Westen zur
Weltenesche Yggdrasil. <<
Aron atmete tief durch und setzte
sich. Dann zeigte er auf die beiden Tiere, die nun einfach nur dastanden, und
wirkten als wenn sie zuhörten. >>Kann sie uns hören? <<, fragte er.
Sonnwin schüttelte den Kopf. Sie wird nicht verstanden haben, warum du geflohen
bist. Sie denkt, du wolltest Urmitz einfach verlassen. <<
Er holte ein dickes Buch aus
seinem Rucksack hervor. Es war in Leder eingeschlagen, und goldene Buchstaben
zierten den Einband. Aron versuchte neugierig zu entziffern, was dort stand. Es
war jedoch die Schrift der Unterirdischen, die er nicht kannte. Ihre Buchstaben
hatten sonderliche Formen. Sonnwin hatte das Buch „Wesen der Oberwelt“
mitgenommen, schlug das Buch an einer Stelle auf, die mit einem Lesezeichen
markiert war, und begann sich in den Text zu vertiefen. Zuhause war er mit
Alvis alles durchgegangen. Jede Etappe seiner Reise.
>>Ich denke, es wird etwa
eine Tagesreise dauern, bis wir am Ziel sind. Dort müssen wir unterhalb einer
großen Wurzel des gigantischen Baumes Ygdrassil eine Höhle finden. Da drin
sitzen die drei alten Nornen. Sie spinnen die Schicksalsfäden aus den Fasern
der Zeit - aus der Zukunft, der Vergangenheit und der Gegenwart. <<
Nornen. Aron wusste mit dem
Begriff nichts anzufangen.
>>Warte mal, du willst damit
sagen, dass wir auf drei was-auch-immer treffen, die unsere Zukunft bestimmen?
<<
>>Nein<<, antwortete
Irrgrim, >>sie haben keinen Einfluss auf das Schicksal. Sie können
Ereignisse nur voraussagen, sehen was gerade geschieht und alles, was bisher
geschehen ist. <<
Er hielt inne und schaute Aron
fragend an, um sicher zu gehen, dass dieser alles verstanden hatte. Aron
nickte. Sonnwin fuhr fort:
>>Sie können uns sagen, wo
sich da Feld der Kornmuhme befindet. Auf ihm sollst du nun die Blume finden,
die die Seele der Gryla in sich trägt, und diese vernichten. Ein völlig
aussichtsloses Unterfangen, wenn du mich fragst. Das Feld ist riesig. Auf ihm
werden sich mehrere tausend Seelen befinden. Du wirst die eine Blume nie
finden. Vorher hat dich die Muhme in Stücke gerissen. <<
Aron schaute Sonnwin bestürzt an.
>>Es sei denn …<<, sagte dieser wichtigtuerisch und tippte mit dem
Finger gegen das Glas der Ewigen Flamme, so dass ein helles Geräusch erklang.
>> … wenn ich dir einen Rat geben darf, dann brenn‘ das ganze Feld
einfach nieder! Das ganze Feld mit allen gottverdammten Hexenseelen, die es
beherbergt.<<
Aron blickte auf das blaue Licht,
und Sonnwin bemerkte, dass es hinter Arons Stirn zu arbeiten begann. Er stellte
sich vor, wie das ganze Feld niederbrannte und alle, ja, wirklich jede einzelne
Hexe ihr Lebenslicht aushauchen würde. Dann aber stieg Angst in Aron hoch, und
er sah Ranja vor sich. Je weiter er sich in den letzten Tagen von ihr entfernt
hatte, desto bewusster war ihm geworden, wie groß die Verantwortung war, die er
für sie trug. Dies war ein Spiel, dessen Regeln er nicht kannte. Die Dinge hier
draußen waren eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, und er fühlte sich wie ein
kleiner Junge, der durch diese gefährliche, ihm unbekannte Welt tapste.
Er musterte Sonnwin. Besonders
vertrauenerweckend wirkte der Zwerg immer noch nicht auf ihn. Er hatte das
dumpfe Gefühl, dass der Erdling seine eigenen Ziele verfolgte. Besser war es,
so beschloss er, er
Weitere Kostenlose Bücher