Die Kornmuhme (German Edition)
des Tages. Schon seit Tagen konnte Ranja das beobachten. Und heute Abend
war sie dann auch noch nicht mal kurz in der Stube erschienen, was Ranja
zunehmend Sorgen bereitete. Nun war es weit nach Mitternacht, und sie horchte
auf den Gang hinaus, ob sich im Zimmer ihrer Tante etwas tat. Doch nichts war
zu hören.
Sie drehte ihre Öllampe heller und
ging leise aus dem Zimmer in den Flur. Sie schaute sich um. Nachts war ihr das
Haus unheimlich. Aber diesmal sah sie keine geschnitzten Figuren, die sich
bewegten.
Sie kam an dem verbotenen Zimmer
vorbei und blieb stehen. Um besser sehen zu können, senkte sie die Öllampe und
beleuchtete den Türrahmen. In Höhe des Schlüssellochs hatte der Rahmen eine
tiefe Rille. Sie sah aus, als wäre sie mit Schmirgelpapier dort hinein gerieben
worden, oder als hätte etwas viele Male daran vorbeigeschrammt. Vielleicht war
der Schlüssel so groß, dass sein Ring das verursacht hatte. Ranja versuchte
sich zu erinnern, wie er sich angefühlt hatte, als sie ihn im Zwiebeltopf
ertastet hatte. Nein, das konnte es nicht sein. Der Schlüssel war klein
gewesen. Sie beugte sich vor und schaute genauer hin.
Winzig kleine, graue Wollfäden
waren in der Rille hängen geblieben. Ranja berührte sie mit einem Finger. Da
plötzlich durchschoss sie ein merkwürdiges Gefühl, so dass in ihren
Fingerspitzen als leises Kribbeln begann, das sich dann blitzschnell in ihrem
gesamten Körper ausbreitete. Instinktiv zog sie den Finger zurück, und das
Gefühl erstarb. Sie spürte ihm nach. Es war Trauer! Tiefe, niederschmetternde
Traurigkeit. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.
Noch einmal berührte sie den
winzig kleinen Wollfaden, und wieder begann es in ihren Fingern zu kribbeln.
Noch bevor sich das Gefühl ein zweites Mal in seiner Gänze ausbreiten konnte,
zog sie die Hand wieder zurück. Sie richtete sich auf und leuchtete mit ihrer
Lampe beunruhigt Wände und Decken ab. Überall steckte diese Wolle! Überall, in
jeder Ritze! Nicht so viel wie im Zimmer der Ähnl, aber doch erschreckend viel.
Sie ging ein Stück weiter, und dann auf eine Holzspalte in der Wand zu, in die
besonders viel Wolle gestopft worden war.
Nach einigem Zögern steckte sie
den Finger hinein. Ein grauenvolles Gefühl - eine Mischung aus Angst, Hass und
Traurigkeit - überflutete sie, so dass ihre Beine versagten, und sie stöhnend
auf die Knie sank. Fast wäre ihr die Lampe aus der Hand geglitten, doch sie
schaffte es im letzten Moment, das Gefäß festzuhalten. Das Gefühl ebbte ab,
sobald sie den Finger zurückzog, doch eine bleierne Schwere blieb in ihrem
Herzen zurück. Keuchend setzte sie sich auf den Boden und starrte entgeistert
die Wände an. Diese Wolle! Was war das!?
Aus dem Zimmer der Tante hörte sie
nun ein leises Seufzen. Sie stand langsam auf und versuchte, sich zu sammeln.
Mit klopfendem Herzen schlich sie auf leisen Sohlen zu der halb geöffneten
Türe. Wieder hörte sie die Tante seufzen, diesmal etwas lauter. Im Zimmer der
Ähnl war es dunkel. Nur ein wenig Mondlicht erhellte den Körper der alten Frau,
der unter dem dünnen Laken lag. Ranja trat näher, und der Schein ihrer Lampe
fiel auf Maras Gesicht. Ranja entfuhr ein leiser Schrei, als sie es sah.
Mara schwitzte. Sie lag mit weit
aufgerissenen Augen nur da und flüsterte immerzu etwas, das Ranja beim besten
Willen nicht verstehen konnte. Sie schien Fieber zu haben. Ranja vergaß jede
Angst und eilte in die Küche, um ein paar Leinentücher mit kaltem Wasser zu
tränken. Dann rannte sie mit den tropfenden Lappen zurück ins Zimmer und legte
sie ihr auf Stirn und Hals. Die Tante starrte Ranja einen Moment lang wirr an.
Dann schloss sie die Augen.
Ranja taumelte in ihr Zimmer
zurück und ließ sich auf ihre Pritsche fallen. Das war alles zu viel für sie.
Sie hatte das Gefühl, dass sie selber bald verrückt werden würde in diesem
Haus. Sie weinte verzweifelt, bis sie erschöpft einschlief.
33
Etwas riss Aron aus dem Schlaf. Es
war ein Geräusch gewesen, aber er konnte sich nicht daran erinnern, was für
eines. Sobald er wach war, bemerkte er die Kälte. Sie war über Stunden wieder
in ihn hineingekrochen. Die Seite seines Körpers, die dem nun
heruntergebrannten Feuer zugewandt lag, war angenehm warm. Vor allem am Rücken
und an den Beinen aber fror er. Es dauerte ein paar Sekunden bis er sich
orientieren konnte. Ach ja, die Reise, Zagel, Sonnwin - das waren in den
letzten Stunden wirklich viele neue Eindrücke gewesen.
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