Die Kreatur
Verzweiflung seinen Widerhall.
»Wer seid ihr?«, fragte er.
Er erhielt keine Antwort.
» Was seid ihr?«
Ein Beben lief durch das Müllfeld. Kurz. Subtil. Die Oberfläche schwoll nicht an und wogte auch nicht, wie sie es vorhin getan hatte.
Nick nahm deutlich wahr, dass sich die mysteriöse Erscheinung zurückzog.
Während er aufstand, sagte er: »Was wollt ihr?«
Die sengende Sonne. Die stille Luft. Der Gestank.
Nick Frigg stand allein da, und der Morast aus Müll war wieder fest unter seinen Füßen.
17
Von einem Strauch mit riesigen rosa, gelb und weiß gemusterten Rosen schnitt Aubrey Picou eine Blüte für Carson ab und streifte die Dornen vom Stängel.
»Diese Sorte heißt French Perfume. Ihre außergewöhnliche Farbzusammenstellung macht sie zur femininsten Rose in meinem Garten.«
Michael beobachtete amüsiert, wie ungeschickt Carson mit der Blume umging, obwohl sie keine Dornen mehr hatte. Rüschen und Rosen lagen ihr nicht. Bluejeans und Knarren lagen ihr schon eher.
Trotz seines unschuldigen Kindergesichts und seines Schlapphuts mit der breiten Krempe wirkte der Herr dieses Gartens zwischen den Rosen ebenso fehl am Platz wie Carson.
Im Lauf der Jahrzehnte seiner kriminellen Laufbahn hatte Aubrey Picou nie jemanden getötet und auch nie jemanden verwundet. Er hatte niemanden ausgeraubt oder vergewaltigt
oder erpresst. Er hatte nichts weiter getan, als es anderen Verbrechern zu ermöglichen, diese Dinge reibungsloser und gekonnter zu bewerkstelligen.
Sein Dokumentenladen hatte gefälschte Papiere von höchster Qualität angefertigt: Reisepässe, Geburtsurkunden, Führerscheine … Er hatte Tausende von Schwarzmarktwaffen verkauft.
Wenn Individuen mit einer Begabung für Strategie und Taktik Aubrey Pläne für einen Überfall auf einen Geldtransporter vorlegten oder ihm eine Idee unterbreiteten, wie man einen Diamantengroßhändler übers Ohr hauen konnte, dann beschaffte er das Risikokapital für die Vorbereitung und die Durchführung des Coups.
Sein Vater Maurice war Anwalt gewesen und hatte sich darauf spezialisiert, Geschworene weich zu klopfen, bis sie fragwürdigen Klienten in dubiosen Fällen von Personenschaden unverschämte finanzielle Entschädigungen zusprachen. Manche Kollegen nannten ihn bewundernd Maurice der Milchmann, da er die Fähigkeit besaß, Geschworene, die so dumm waren wie Kühe, zu melken und eimerweise Profite aus ihnen rauszuholen.
In der kühnen Hoffnung, Aubrey würde sich dem – zu jener Zeit – ganz neuen Feld von Gruppenklagen zuwenden und dreiste, keineswegs erwiesene Behauptungen und gutes Theater im Gerichtssaal dazu einsetzen, große Firmen zu terrorisieren und sie mit Abfindungen in Höhe von Milliarden Dollar an den Rand des Bankrotts zu treiben, hatte der Milchmann seinen Sohn in Harvard Jura studieren lassen.
Zu Maurice’ Enttäuschung hatte die Juristerei seinen Sohn gelangweilt, obwohl er den Anwaltsberuf ja mit entsprechender Verachtung hätte ausüben können, und Aubrey hatte beschlossen, er könnte der Gesellschaft von außerhalb des Rechtssystems ebenso viel Schaden zufügen wie von innen. So hatten sich Vater und Sohn einander für eine Weile entfremdet,
doch mit der Zeit war Maurice stolz auf seinen Jungen gewesen.
Der Sohn des Milchmanns war nur zweimal angeklagt worden. Beide Male war er einer Verurteilung entgangen. In beiden Fällen waren die Geschworenen, nachdem der Obmann den Urteilsspruch verkündet und den Angeklagten für unschuldig erklärt hatte, aufgestanden und hatten Aubrey applaudiert.
Um einer anhängigen dritten Anklage zuvorzukommen, war er insgeheim als Belastungszeuge aufgetreten. Obwohl er Dutzende von Gangstern ohne deren Wissen verpfiffen hatte, war sein Ruf in Verbrecherkreisen und unter deren Bewunderern unbeschadet, als er sich mit fünfundsiebzig aus dem Berufsleben zurückzog.
»Mit Waffen habe ich nichts mehr zu tun«, sagte Aubrey. »Weder mit den großen, lauten, die Türen aufsprengen, noch mit anderen.«
»Wir wissen ja, dass du dich zur Ruhe gesetzt hast …«
»Echt wahr«, versicherte ihr Aubrey.
»… aber du hast doch noch Freunde überall da, wo man besser keine Freunde haben sollte.«
»Diese Rose heißt Black Velvet«, sagte Aubrey. »Das Rot ist so dunkel, dass es stellenweise schwarz wirkt.«
»Wir wollen dich nicht in eine Falle locken«, sagte Carson. »Kein Staatsanwalt wird Tausende von Stunden darauf vergeuden, einem harmlosen achtzigjährigen Gärtner etwas anzuhängen.
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