Die Kreuzfahrerin
Fett war den Kriegern jetzt recht, um die Geflechte ihrer Kettenhemden und weiterer Rüstungsteile vor dem Rost zu schützen. Ursula verbarg ihre Salben zuunterst in der Truhe und schützte den Inhalt des Holzkastens mit ihrer alten Kuhhaut vor der Nässe. Schwer hingen ihr und Hilde die Wollkleider am Leib. Das nasse Gewebe vermochte auch nicht mehr zu wärmen, und mit blauen Lippen saßen sie jeden Abend dicht am Feuer. Alles war nass und begann in kürzester Zeit zu stinken. Beide Frauen legten sich abends nicht mehr auf ihre faulenden Strohsäcke. Sie schliefen im Sitzen an die Truhe gelehnt unter der tropfenden Zeltplane. Während Hilde und Ursula sich nur ihrer Strohsäcke entledigten, warf so mancher Krieger ein Rüstungsteil nach dem anderen von sich. Durch die Nässe schien alles, was man am Leib trug, um vieles schwerer als sonst. Der glitschige Morast, der an dem Schuhwerk haftete, machte jeden Schritt zur Qual. Ein jeder rutschte und stolperte vor sich hin. Auch die Tiere fanden unter ihren Hufen und Klauen keinen Halt. Erschreckte Schreie ließen Ursula, die sich gegen ihre Karre gestemmt vorwärtskämpfte, aufschauen. Vor ihnen war ein Ochse ausgeglitten und hatte im Fallen das Tier neben sich mitgerissen, nun glitten die beiden massigen Körper über den Schlamm in den Abgrund neben dem Weg und rissen das Fuhrwerk, an dem sie hingen, mit sich. Die zwei Frauen, die oben auf der Ladung Erholung gesucht hatten, schrien gellend auf, als sich der Wagen überschlug und ihre Körper zermalmte. Immer wieder gab es solche Katastrophen. Hatten anfangs einige besonders Schlaue noch die am Wegrand liegenden Rüstungen und Kettenhemden eingesammelt, um irgendwann damit gute Geschäfte zu machen, befreiten sie nun fluchend ihre Lasttiere und Karren von dem zusätzlichen Gewicht. Der Himmel kannte kein Einsehen. Es regnete über Wochen, und dazu wurde es immer kälter. Ursula sah Frauen, die völlig entkräftet den letzten Schritt, den sie noch zu gehen vermochten, in den Abgrund taten. Auch völlig abgemagerte Männer lagen tot am Wegesrand. Ursula und Hilde waren zeitweise selbst so erschöpft und müde, dass sie sich am liebsten danebengelegt hätten, aber jede von ihnen wusste, wer in diesen Tagen aufhörte zu gehen, ging nie mehr wieder. Roderich bekam Ursula nur selten zu Gesicht. Er musste vorne im Heer mitgehen. Immer lauter wurden die Flüche gegen die Berge aus den Kehlen der Wallfahrer und mit ihnen auch das Husten der anwachsenden Zahl Kranker. Über vierzig Tage kämpften sie sich durch Regen und Morast. Als sie in die Gegend eines Ortes Namens Germanikeia kamen, stießen sie auf das Heer von Graf Balduin. Doch seine Truppen blieben nicht bei der Wallfahrt, sondern wandten sich weiter nach Osten, in der Hoffnung, dort ein eigenes Fürstentum zu errichten.
Priester und Mönche predigten täglich vor fast jedem Zelt, um die Pilger an ihre Gelübde zu erinnern.
Antiochia,
20. Oktober 1097
Ursula hatte längst wie alle anderen die imposante Stadt entdeckt, die sich an die Berge schmiegte und von einer ehrfurchtgebietenden Mauer umgeben war, als Roderich herangeritten kam. „Antiochia, Ursula, wir haben es geschafft, das ist Antiochia“, rief er ihr noch vom Pferd aus zu. „Ursula, es ist nicht mehr weit. Die Heere werden sich jetzt formieren, vor uns liegen nur ein paar Dörfer und die Brücke über den Fluss. Dann sind wir da, und ihr könnt euch endlich ausruhen. Es wird einige Zeit kosten, diese Stadt zu nehmen. Zeit, in der ihr nicht mehr laufen müsst.“
Ursula hatte nur ein schmales Lächeln mit blaugefrorenen Lippen für diese Nachricht übrig. Roderich sah sie besorgt an. „Nicht lange, und du kannst dich an einem großen Feuer wärmen, den Rest übernehme dann ich“, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr und küsste sie noch einmal, bevor er sich wieder in den Sattel schwang.
Als die Sonne unterging, kehrte er zurück. Vor sich über dem Hals seines Pferdes lag ein totes Schaf. Er stieg ab, überließ das Pferd seinem Knappen und schleppte das Schaf zu Ursulas Zelt. „Ich habe euch Fleisch gebracht“, begrüßte er die Frauen. „Das war heute ein leichter Sieg. Die Garnisonen in den Dörfern ergriffen bei unserem Anblick die Flucht. Bischof Adhémar setzte sich selbst an die Spitze des Heers, und unter seiner Führung überraschten wir die Feinde, die die große Brücke über den Fluss bewachten. Auf der anderen Seite der Brücke haben wir eine Handelskarawane mit Vieh und Getreide für
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