Die Kreuzfahrerin
General Tatikios hatte mit den Resten seiner Truppen die Flucht ergriffen. Keiner der Fürsten war mehr bereit, sich an den Treueeid gegenüber Kaiser Alexios zu halten. Jeder von ihnen wollte diese Stadt für sich, besonders nachdem man sich darauf geeinigt hatte, dass derjenige, dem es gelingen würde, bis in die Zitadelle vorzudringen, neuer Statthalter Antiochias werden würde. Hilde, die nach wie vor häufig ihre Zeit bei den Normannen verbrachte, berichtete Ursula und Roderich, dass der Fürst Bohemund nicht nur jeden Gefangenen unter Folter verhörte, sondern auch einige Spione in die Stadt geschleust hatte.
Im April ging man zu einer neuen Taktik über. Mit neuartigen Wurfmaschinen, die über das Meer zu den bekreuzigten Heeren gefunden hatten, warf man alles, was einem einfiel und geeignet zu sein schien, die Menschen hinter den Mauern zu demoralisieren, über die Mauern in die Stadt. Nachdem man anfangs noch Steine gegen die Mauerzinnen geschleudert hatte, waren es nun verrottete Tierkadaver und Körbe mit Exkrementen, die durch die Luft sirrend irgendwo hinter den Mauern gegen eine Hauswand schlugen. Nach einem Ausfall mehrerer hundert Muslime aus der Stadt, die alle von den Rittern niedergemacht wurden, brachte man die abgeschlagenen Köpfe der Feinde zu den Wurfmannschaften.
Auch wenn es nach und nach wieder wärmer wurde, die Nahrungsknappheit blieb, und vor den Mauern fragte man sich immer mehr, wie die Eingeschlossenen in der Stadt nur so lange durchhalten konnten.
Ende Mai mehrten sich die Gerüchte, dass Bohemund einer Lösung des Problems nahe war. Hilde konnte Ursula davon überzeugen, dass sie ihr Zelt abbauten und all ihre Habe marschfertig auf dem Karren verstauten. So wie in früheren Tagen schliefen sie unter dem Wagen. Hilde blieb auch über Nacht bei ihren normannischen Freunden, und Ursula lag manchmal neben Roderich und seinen Leuten in deren Zelt.
Antiochia,
2. Juni 1098
Mitten in der Nacht wurden Roderich und Ursula wach von lautem Gebrüll. „Deus lo vult!“, drang es aus unzähligen Kehlen. „Schnell zu den Waffen, die Tore der Stadt stehen offen!“ Der Tumult war unbeschreiblich. Die Männer, aufgescheucht aus tiefem Schlaf, versuchten so rasch wie möglich in ihre Rüstungen zu kommen. Knappen rannten, die Pferde zu holen, prallten mit jenen zusammen, die bereits mit mehreren Tieren von den Koppeln zurückkehrten. Ursula half Roderich beim Überziehen des Kettenhemdes, reichte ihm Schwert und Helm und gab ihm noch einen letzten Kuss.
„Wenn wir die Stadt jetzt nicht nehmen, ist alles verloren.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich von ihr. Ursula blieb alleine vor seinem Zelt zurück. Sie sah sich um, auch das gemeine Volk war in heller Aufruhr. Männer wie Frauen, bewaffnet mit erbeuteten Schwertern oder auch nur mit Knüppeln, rannten hinter den Rittern und Soldaten her. Alle wollten nur noch das eine: hinein in die Stadt. „Deus lo vult!“
Ursula sorgte sich um ihre Sachen und hoffte, Hilde beim Karren zu treffen. Gegen den Strom von Menschen drängte sie sich durch bis zu ihrem Lagerplatz. Doch Hilde war nicht da. Verzweifelt beschloss Ursula, wenigstens den Esel schon einmal anzuschirren. Als Hilde dann noch immer nicht erschien, griff sie sich das Halfter und zog den Esel hinter sich her zu den Zelten der Ritter. Im Osten kündigte ein silberner Streifen den herannahenden Tag an, und Ursula geriet unversehens in eine Rotte aufgebrachter Menschen, die in Richtung Stadt drängten. Behindert durch ihren Karren konnte sich Ursula nicht gegen den Druck der immer größer werdenden Menschenmenge stellen. Esel, Karren und Frau wurden von den anderen vor sich hergeschoben.
Im Sog der Masse schwemmte es Ursula samt ihrem Karren durch die Tore in die Stadt. Es dauerte eine ganze Weile, bis es ihr gelang, dem Hauptstrom der rasenden Pilger in eine Seitengasse zu entkommen. Doch auch dort blieb ihr keine Zeit zu verschnaufen. Unablässig stürmten Leute an ihr vorbei, die meisten mit furchterregend verzerrten Gesichtern, Waffen über ihren Köpfen schwingend, einzelne, massive Bündel von Wut und Hass. Sie wurde angerempelt, weitergedrängt und hatte Mühe, das Halfter des verstörten Esels festzuhalten. Auf ihr Gefährt blickend bemerkte sie jetzt einige Kinder, die versuchten, etwas von der Ladefläche zu ziehen. Erregt durch den Aufruhr um sie herum fuhr sie mit ihrem Stab zwischen die kleinen Diebe. Zuerst schienen sie wenig beeindruckt, doch dann machten sie auf
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