Die Kreuzfahrerin
die Stadt erobern können“, berichtete er voller Euphorie. Ursula war zu erschöpft, um sich richtig zu freuen. „Ich bin froh, dich in einem Stück wiederzusehen“, sagte sie nur und gab Roderich einen Kuss. „Warte, nicht lange, und du hast ein frischgebratenes Stück Fleisch zwischen den Zähnen“, versuchte er sie zu trösten. Er ging vor das Zelt und zog dem toten Tier das Fell ab. Eine Keule schnitt er gleich heraus und hängte sie auf ein Schwert gespießt über das Feuer. Hilde brachte den Kessel, füllte ihn mit Wasser und half Roderich beim Zerlegen des Tieres. Einen Teil der Knochen und etwas Fleisch gab sie gleich in den Kessel. „Das gibt eine kräftige, heiße Brühe“, kommentierte sie ihr Tun. „Das ist genau das, was wir jetzt brauchen.“
„Bleiben wir hier“, fragte Ursula, „oder ziehen wir morgen näher an die Stadt?“
„Wir werden noch über die Brücke ziehen. Jenseits des Flusses gibt es reichlich Platz für das Lager“, antwortete Roderich und rieb Ursula kräftig den Rücken, damit ihr etwas wärmer würde. Sie sah so müde und erschöpft aus, und in ihm regte sich neben der großen Liebe, die er für diese Frau empfand, Mitleid.
Die Brücke, über die sie ziehen sollten, war ein imposantes Bauwerk, das auf ihrer Seite von zwei massiven Wachtürmen flankiert wurde. Von dieser Seite des Flusses aus war es möglich, die Stadt in all ihrer Größe und Pracht zu sehen. Soweit sie schauen konnten, zog sich eine hohe Mauer mit unzähligen Türmen um die Metropole. Die Mauern zogen sich in Windungen um die am Fuße eines Berges gelegene Stadt, bis hoch zu einer Burg, die auf der Spitze des Berges errichtet zu sein schien. Waren die Mauern von Konstantinopel und von Nikaia ihnen bereits unüberwindbar vorgekommen, so versetzte ihnen diese Wehranlage einen Schock. Wie sollte man eine so ausgedehnte Befestigung umstellen, und wie sollte es gelingen, ein solches Bollwerk zu erstürmen?
Ursula und Hilde fanden einen Platz für ihr Zelt nicht weit von der Stelle entfernt, wo der unter den Mauern der Stadt hervorschießende Fluss sich mit dem Orontes vereinte. Wasser gab es mehr, als ihnen lieb war, denn es hatte auch wieder zu regnen begonnen. Die Heere und auch alle anderen richteten sich darauf ein, den ganzen Winter vor den Toren dieser Stadt zu verbringen.
Einige halbherzige Angriffe wurden auf das Stadttor und die Mauern unternommen. Aber noch hatte niemand einen wirklichen Plan, wie eine Eroberung gelingen könnte.
Nach mehreren Wochen riefen die Geistlichen zu vermehrtem Gebet und Buße auf. Kurz vor dem Fest Jesu Geburt jagte man alle Frauen aus den Zelten der Ritter. Doch auch Gebete, Fasten und Enthaltsamkeit brachten die Mauern Antiochias nicht zum Einsturz.
Im Lager gingen Gerüchte umher, dass besonders der Normannenfürst Bohemund großes Interesse an der Stadt hatte und ständig Kundschafter und Spione in seinem Zelt empfing.
Die Wintermonate waren grausam. Es regnete weiterhin fast ohne Unterlass, und gleichzeitig wurde es immer kälter. Die einzige Stelle, an der das Herumsitzen noch erträglich war, schienen die Feuer bei den Zelten zu sein. Doch so nahe man auch den Flammen rückte, die Kleider der Pilger wurden nie wirklich trocken. Mit dem Beginn des neuen Jahres stellte sich auch der Hunger wieder ein. Das Land um die Stadt herum gab nichts mehr her, und auch wenn die Bevölkerung des Landes ihnen wohlgesonnen war – wo nichts mehr war, konnte man auch nichts holen. Immer weiter mussten Heeresabteilungen in das Umland ziehen, um genug Nahrung für Mensch und Tier heranzuschaffen. Im Februar hörten die Frauen davon, dass nicht nur einfache Soldaten, sondern auch der ein oder andere Adlige versucht hatte, sich aus dem Staub zu machen. Täglich wurden Desserteure hingerichtet und zusammen mit den an Hunger und Krankheit Verstorbenen in die ausgehobenen Gruben geworfen.
Bereits im Dezember war es gelungen, eine von Damaskus kommende Streitmacht, die von Antiochia zu Hilfe gerufen worden war, zu besiegen. Nun mehrten sich Berichte, dass erneut ein Heer aus dem Hinterland heranzog, um den Bekreuzigten in den Rücken zu fallen. Auch Roderich musste dem Feind mit einem Großteil der Besatzungstruppen entgegenziehen. Elend zogen sich für Ursula die Tage dahin, bis Roderich erschöpft, aber heil wieder im Eingang ihres Zeltes stand.
Auch der erneute Sieg mochte die gedrückte Stimmung im Lager nicht aufzuhellen. Die Fürsten lagen im Streit und belauerten einander.
Weitere Kostenlose Bücher