Die Kreuzweg-Legende
»Wenn ich noch irgend etwas für Sie tun kann, sagen Sie es mir!«
»Danke, mein Freund, das ist sehr lobenswert. Jetzt müssen wir auch das Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ich werde beten, tun Sie das andere und stoppen Sie das Grauen. Am Tage können Sie alles vorbereiten. Wenn es Nacht wird, müssen Sie es geschafft haben. Dann kommt er und holt sich seine Opfer. Immer in der Nacht…«
»Ich weiß.«
St. Immel verließ den Raum. Die Blicke das Verletzten begleiteten ihn so lange, bis er die Tür geschlossen und auf den schmalen Flur hinausgetreten war.
Dort lehnte er sich für einen Moment gegen die Wand. Schwer und seufzend holte er Luft. Er fragte sich, ob er bisher alles richtig gemacht hatte.
Oder war es nicht falsch gewesen, ein Leben als Einsiedler zu führen? Hätte er sich nicht lieber den drängenden Problemen stellen müssen, die nun allgemein Überhand nahmen?
Ja, das wollte er.
Leise Schritte schreckten ihn auf. Martha, das junge Mädchen, kam. St. Immel erinnerte sich wieder an die Worte des Pfarrers und schaute Martha an.
Sie war wirklich hübsch. Ebenso dunkel wie die Augen war das lange Haar. Sie hatte es zusammengelegt und auf dem Kopf verknotet. Die Haut besaß einen braunen Schimmer, denn der Sommer war zum Teil sehr heiß gewesen, und die Sonne hatte lange geschienen. Martha trug ein einfaches Kleid. Darüber hatte sie sich eine Schürze gebunden.
St. Immel, der die Großstadt kannte, dachte daran, daß dieses Mädchen, in einer anderen Kleidung und auch zurechtgemacht, überall Aufsehen erregen würde.
Martha ahnte nichts von den Überlegungen des Mönchs. Sie dachte an den älteren Geistlichen. »Wie geht es dem Pfarrer denn?« erkundigte sie sich mit leiser Stimme.
»Er möchte seine Ruhe haben.«
»Also keine Störung?«
»Genau. Auch Sie, Martha, sollten nur zu ihm gehen, wenn er Sie von allein ruft.«
»Ja, das werde ich.«
St. Immel streckte seinen Arm aus. »Da wäre noch etwas«, bemerkte er.
»Ich werde am Nachmittag noch einmal zu Ihnen kommen, um mit Ihnen über gewisse Dinge zu reden.«
Das Mädchen erschrak. »Hängt es mit dem Zustand des Pfarrers zusammen?«
»Auch. Doch das meiste geht Sie persöhnlich an. Machen Sie sich keine Sorgen!« St. Immel lächelte. »Wir werden das Problem schon lösen. Und denken Sie auch daran, daß Gott die Menschen noch nie im Stich gelassen hat, auch wenn es manchmal so scheint…« Mit diesen Worten verabschiedete sich St. Immel und ließ eine etwas ratlose Martha zurück. Vor dem kleinen Haus atmete der junge Mönch ein paarmal tief durch. Er schaute über die Dächer der Häuser zu den Konturen der Berge hin, die im Sonnenlicht wie graue Wellen wirkten. Es waren die letzten Ausläufer der Karpaten. Was hatte man sich über diesen Gebirgszug nicht alles für Geschichten erzählt?
St. Immel dachte an den Vlad Dracula, dessen Schloß auch in den Karpaten gelegen hatte. Nur nicht in Polen, sondern in Rumänien, einem Land, das weiter südlich lag.
Nun hatte auch hier das Grauen zugeschlagen.
St. Immel schüttelte den Kopf. Bevor er mit den Leuten im Dorf redete, wollte er noch einmal in die Kirche gehen. Bei schweren Problemen hatte ihm ein Gebet immer geholfen…
***
Und wieder löste die Dämmerung einen langen Tag ab. Sie kam mit ihren gewaltigen Schatten, die sich wie große Tücher über die Berge legten, in die Täler hineindrangen und dort zuerst eine graue Zwielichtzone schufen.
Auch im Wald wurde es dunkel. Sobald die Sonne verschwunden war, wurde eine andere Welt geboren. Tiere, die tagsüber geschlafen hatten, erwachten.
Eulen und Uhus öffneten ihre scharfen Augen und machten sich bereit für eine nächtliche Beutejagd. Wehe der Maus, die in ihren unmittelbaren Sichtkreis geriet. Sie war rettungslos verloren.
Aber nicht nur Tiere hatten tagsüber geschlafen. Auch anderes Leben, das man eigentlich nicht als solches bezeichnen konnte, weil es nicht positiv, sondern das Gegenteil davon war.
Untotes Leben.
Kamen die langen Schatten der Nacht, waren sie für dieses Leben wie ein Labsal, und neue Kraft strömte in den tagsüber geschwächten Körper hinein. Die Nacht mit ihrer Finsternis wirkte belebend, und es gab auch für sie kein Hindernis.
Selbst in tiefster Erde spürte man ihren kalten Atem, und auch in den Grüften und Überresten alter Bauten aus vergangener Zeit. So ein Überrest existierte dort, wo noch kaum ein Mensch hinkam. Die Trümmer der alten Burg lagen im dichten Wald verteilt. Vor
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