Die Kreuzweg-Legende
und er wird dort weitermachen, wo er vor über dreihundert Jahren aufgehört hat.«
»Meinen Sie?«
»Bestimmt, Marcus, bestimmt.«
St. Immel war völlig durcheinander. Hätte er den Reiter nicht mit eigenen Augen gesehen, er hätte an den Worten des Pfarrers gezweifelt. Nun nicht mehr. Zudem dachte er daran, welches Glück er auch gehabt hatte. Fast hätte ihn der andere noch erwischt. Hatte nicht auch der Reiter nach ihm geschlagen?
Der junge Mönch schüttelte sich.
»Was haben Sie?« fragte der Verletzte.
St. Immel hob die Schultern. »Ich dachte nur daran, daß auch bei mir der Herrgott seine schützende Hand im Spiel hatte.« Marcus sprach leise, da er sich vor Lauschern fürchtete. »Um Haaresbreite hat mich die Klinge verfehlt.«
»Seien Sie dafür dankbar.«
Der Eremit nickte.
Mit zwei Fingern fuhr er über sein Kinn, schaute zum Fenster und hob die Schultern.
Der ältere Geistliche lachte leise. »Bestimmt denken Sie jetzt darüber nach, wie man diesen Reiter stoppen kann?«
»Ja, das denke ich.«
»Wissen Sie, mein Freund, ich habe Ihnen doch von der Marienstatue berichtet, die einmal in unserer Kirche gestanden hat. Man hat sie damals zum Schutz gegen den unheimlichen Reiter geschnitzt. Diese Statue warnte vor Gefahren. Wenn das Dorf bedroht wurde, dann weinte sie blutige Tränen, und jeder wußte Bescheid.«
»Haben Sie das je erlebt?«
»Nein. Ich hörte davon.«
»Die Statue ist verschwunden, wie ich weiß«, erklärte St. Immel.
»Leider. Man hat sie mitgenommen. Menschen aus Szetisch, die ins Ausland emigrierten. Es war nicht gut, daß sie die Figur mitnahmen. Ich hätte es gern verhindert, es war mir nicht möglich gewesen.«
St. Immel dachte scharf nach, bevor er die Antwort gab. »Dann könnte es durchaus passieren, daß die Statue in der anderen Stadt, in der sie jetzt steht, blutige Tränen weint, weil der Reiter erschienen ist?«
»Möglich?« Der Pfarrer lächelte. »Vielleicht. Und wenn, wer würde sich darum schon kümmern?«
»Vielleicht die Menschen, die die Statue damals mitgenommen haben?«
»Meinen Sie nicht, daß die alte Geschichte längst in Vergessenheit geraten ist?«
»Kann man so etwas vergessen?«
»Im Laufe der Zeit schon. Sollte die Statue tatsächlich blutige Tränen weinen, würde man es möglicherweise für ein Wunder halten oder ähnliches. Ich weiß es auch nicht. Wir jedenfalls sollten uns nicht mehr mit Theorien abgeben.«
»Aber was können wir tun?«
Der Pfarrer versuchte, seinen linken Arm anzuheben. »Ich nichts. Vielleicht lebe ich heute abend nicht mehr, aber Sie, mein junger Freund, müßten versuchen, eine Lösung zu finden.«
»Wenn ich kann…«
»Ja, tun Sie etwas. Warnen Sie die Menschen. Vor allen Dingen die jungen Mädchen. Es gibt ja noch einige. Wenn der Reiter beginnt, wo er aufgehört hat, schweben unsere Frauen und Mädchen in großer Gefahr, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Bestimmt.« St. Immel senkte den Kopf. Nach einer Weile fragte er:
»Wer weiß alles davon?«
»Niemand außer Ihnen. Auch Martha nicht. Sie ist die Tochter meiner Haushälterin, die in die Stadt zu Verwandten gefahren ist. Auch das Mädchen ist in Gefahr. Martha ist hübsch. Der Reiter wird nicht an ihr vorbeisehen können.«
»Dann muß ich sie wegschaffen.«
»Wenn Ihnen das möglich sein könnte, wäre viel erreicht. Sie müssen auch die anderen Bewohner von der Gefahr überzeugen. Zur Not zeige ich mich ihnen.«
»Das sehe ich alles ein. Nur frage ich mich, wie wir den Spuk stoppen können. Alles andere wäre nur ein Vorherschieben oder Weglaufen. Wir müssen uns dem Reiter stellen.«
»Das wird Ihre Aufgabe sein.«
St. Immel blickte starr. »Ich weiß«, sagte er leise. »Ich denke darüber nach, wie ich es anstellen soll? Ich habe keine Ahnung, auch keine Waffen und kann selbst nicht fechten oder kämpfen.«
»Vertrauen Sie auf Gott, das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann, junger Freund. Und das Kreuz. Beten Sie! Vielleicht finden Sie auch mutige Männer, und es geschieht ungefähr das gleiche wie damals vor einigen hundert Jahren. Diese Gestalt muß einfach vernichtet werden. Sie darf nicht töten.«
»Ja, das ist mir klar.«
Der Pfarrer lächelte. »Sprechen Sie mit den Menschen. Gehen Sie zu jedem hin. Die Alten werden Ihnen bestimmt folgen, denn sie wissen noch besser über die Kreuzweg-Legende Bescheid.«
St. Immel nickte. »So werde ich es machen, glaube ich.« Er legte seine Hand auf die normale des Pfarrers.
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