Die Kreuzweg-Legende
Wasser aufgestellt. Als es kochte, kippte sie ihn, so daß die heiße Brühe in die Wanne schwappen konnte. Ein zweiter Topf stand ebenfalls bereit. Das Wasser war nicht ganz so heiß. Auch ihn leerte sie und schaute den wallenden Schwaden nach, die nebelgleich durch den kleinen Raum trieben. Da das Wasser in der Wanne eine noch zu hohe Temperatur besaß, kippte sie noch kaltes nach.
Schließlich war sie zufrieden, holte das Stück Kernseife, stellte einen Schemel zurecht und begann damit, sich zu entkleiden. Das kleine Fenster lag gegenüber. Elektrisches Licht existierte in diesem Anbau nicht. Dafür brannten zwei alte Petroleumleuchten, und durch die Ofenklappe fiel auch noch rötlicher Schein, der Konturen des jungen Mädchenkörpers weich und fließend erscheinen ließ. Martha war in der Tat eine Schönheit. Einmal von ihren Kleidern befreit, hätte sie auch in einer westlichen Metropole trotz großer Konkurrenz Aufsehen erregt.
Das kleine Fenster lag nicht hoch. Man konnte bequem hindurchschauen. Es war auch schon passiert, daß ein Gesicht erschienen war, als sie badete, und es war ihr nicht einmal unangenehm gewesen, obwohl sie schrecklich geschrien hatte.
Heute schaute niemand.
Die Warnung des Einsiedlers hatte gefruchtet.
Martha stieg in die Wanne. Das Wasser hatte genau die richtige Temperatur. Martha streckte sich und genoß es minutenlang, von der warmen Flüssigkeit umspielt zu werden.
Dabei schloß sie die Augen und dachte an die große Stadt Warschau, die sie noch vor dem Winter erreichen wollte. Die Freundin hatte ihr versprochen, sie für die ersten Tage aufzunehmen, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatte.
Es war nie still im Haus. Sie vernahm das Knacken des Holzes im Ofen, hörte hier und da ein Geräusch und auch das Trappeln kleiner Schritte. Mäuse fanden hier immer Ritzen, Spalten und Verstecke. Ein glückliches Lächeln umspielte den Mund des schönen schwarzhaarigen Mädchens, wenn es an Warschau dachte, und Martha schreckte regelrecht hoch, als sie merkte, daß sich das Wasser allmählich abkühlte. Dabei wollte sie sich noch waschen. Sie kniete sich hin, nahm die Seife und ließ sie über ihre zarte Haut gleiten. Ein wohliges Gefühl durchrieselte sie, so daß ihre Gedanken abschweiften. Sie drehten sich um Dinge, die ihre Mutter als schlimm bezeichnet hätte, für ein Mädchen ihres Alters aber nur allzu natürlich waren.
Bald war sie über und über mit festem Schaum bedeckt, aus dem die beiden dunklen Brustwarzen spitz und vorwitzig hervorlugten. Mit beiden Händen strich sie darüber, schüttelte plötzlich wegen ihrer eigenen Gedanken den Kopf und flüsterte: »Du bist verrückt!«
Rasch tauchte sie wieder unter.
Martha spülte den Schaum ab. Vor Scham hatte sie einen roten Kopf bekommen. Sie beeilte sich.
Im Bad wallte die Feuchtigkeit. Sie hielt auch die Spiegelfläche bedeckt und hatte auf der Innenseite des Fensters eine Tropfenspur hinterlassen. Da konnte niemand mehr durchschauen.
Martha stieg aus der Wanne. Ein Badetuch lag bereit. Wie immer kratzte es, wenn die Haut nach dem Baden so weich war, aber sie hatte sich daran gewöhnt.
Plötzlich stand sie steif.
Etwas war anders geworden.
Schlagartig, von einer Sekunde zur anderen, hatte der Schock sie getroffen.
Da war eine Stimme zu hören.
Entfernt nur, aber sie richtete sich an Martha allein. Die Stimme war lockend, weich und dennoch befehlsgewohnt. Sie teilte ihr mit, daß er kommen und sie holen würde.
Martha schüttelte den Kopf. Plötzlich war sie durcheinander. Die Männerstimme hatte sie noch nie zuvor gehört. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, wer etwas von ihr wollte.
Bis ihr die Warnung des Eremiten einfiel. Hatte St. Immel nicht von der Gefahr gesprochen, in der sich die Frauen des Dorfes befanden, weil der unheimliche Reiter zurückgekehrt war?
Ein Toter kam zurück…
Martha schluckte, als sie daran dachte. Durch ihren Körper jagten Hitzewellen. Sie beschäftigte sich so sehr mit diesem Gedanken, daß sie vergaß, sich weiter abzutrocknen.
Aber konnte denn ein Toter überhaupt zurückkehren? Nein, das war Unsinn, Aberglaube. Genau wie diese Kreuzweg-Legende. Wer einmal gestorben war, der blieb es auch und damit fertig. Es war unmöglich, sie hatte sich alles eingebildet. Aber wie sollte sie überhaupt darauf kommen? Es gab keinen Grund für die Einbildung. Zudem hatte sie tatsächlich das Gefühl gehabt, als wäre sie angesprochen worden.
Jetzt wieder.
Der andere sprach davon, daß
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