Die Kreuzweg-Legende
komme!« rief sie voller Erwartung. »Ich komme…« Schon lag ihre Hand auf der Klinke. Das Licht einer brennenden Leuchte streifte ihr Gesicht, und sie wollte auch die Klinke nach unten drücken, als ihr plötzlich wieder die Worte des Mönchs einfielen.
Wie intensiv hatte er sie gewarnt! Das Mädchen zögerte. Ihr Blick fiel nach links. An der Wand hing ein kleiner Altar mit einer Marienfigur. Sie konnte das Gesicht erkennen und glaubte auch darin eine Warnung zu lesen. Zumindest aber den Rat, so rasch wie möglich zu fliehen und Hilfe zu holen.
Sie mißachtete die Warnung, denn der Fremde schlug wieder hart gegen das Türholz.
»Ja!« rief Martha. »Ich öffne schon.«
Im nächsten Moment zog sie die Tür auf.
Es war das blitzartige Erkennen einer Gefahr, denn vor ihr stand der Reiter. Er hockte noch auf seinem Pferd, einem pechschwarzen Gaul, und ebenso schwarz wie das Tier war auch er.
Von seinem Gesicht konnte Martha nichts erkennen, da es im Schatten einer Hutkrempe lag. Sie sah weder Augen, Nase noch Mund. Dafür einen ausgestreckten Arm, deren Finger in ihre Richtung zielten, um sie greifen zu können.
Der Reiter trug einen Mantel, der sich im leichten Nachtwind bewegte.
»Komm mit!«
Er wollte zufassen, doch das Mädchen bekam plötzlich Angst und ging zwei Schritte zurück. Der andere griff ins Leere.
Unwillig schüttelte er den Kopf. Aus dem unter der Hutkrempe liegenden Maul drang dem Mädchen fauliger Gestank entgegen, und Martha wußte plötzlich, daß sie den vor sich hatte, der eigentlich hätte längst tot sein müssen.
Die Kreuzweg-Legende existierte!
Als ihr dies bewußt wurde, war es bereits zu spät, denn wen sich der schwarze Reiter einmal ausgesucht hatte, den wollte er auch haben. Hart gab er seinem Pferd die Sporen und tat etwas, das Martha nie für möglich gehalten hatte.
Er ritt in den Flur.
Da begann sie zu schreien!
***
Wir hatten Hufschlag gehört!
St. Immel schaute mich an, ich blickte in sein Gesicht. Und jeder sah die Gänsehaut und die Besorgnis des anderen in den Augen schimmern. Er war also gekommen, Suko und Kasimir Wojtek hatten ihn nicht aufhalten können.
Das mußten wir erledigen.
Aber erst mußten wir ihn haben. Wo konnte er sich versteckt halten? Das Dorf war zwar klein, dennoch relativ groß, denn zwischen den Häusern gab es zahlreiche Möglichkeiten, sich im Schutz der Dunkelheit zu verbergen.
Noch immer sprachen wir nicht, lauschten dem Klang, der stets gleichblieb, und erst eine halbe Minute später schwächer wurde.
»Das kam von dort!« Der Mönch zeigte in die Richtung, wo auch der Friedhof liegen mußte.
»Ja«, bestätigte ich seine Angaben, »aber er reitet woanders hin.«
»Stimmt leider.«
»Dann müssen wir ihm folgen oder ihm entgegengehen.« Ich stieß St. Immel an. »Kommen Sie mit, Pater, es eilt!«
Der Mönch hatte nichts dagegen, mir zu folgen. Obwohl er sich in Szetisch besser auskannte, hatte ich die Führung übernommen. Sehr leise bewegten wir uns voran. Wenn wir den Hufschlag wieder hörten, sollten wir nicht durch das Geräusch unserer eigenen Schritte gestört werden.
Dann war er verstummt.
Wir hatten ungefähr die Ortsmitte erreicht und waren von jedem Flecken praktisch gleich weit entfernt.
St. Immel schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Sollte er sein Ziel schon erreicht haben?«
»Glaube ich nicht.«
»Was ist es dann?«
Ich hob die Schultern. »Kommen Sie, wir werden weitergehen.« Nach ein paar Schritten stoppten wir erneut, denn abermals hatten wir den Hufschlag vernommen.
Diesmal sogar lauter als zuvor. Das hieß, der unheimliche Reiter befand sich in unserer Nähe.
Marcus St. Immel und ich hatten unsere Köpfe nach links gedreht. Dort war nichts zu sehen, nurmehr die Umrisse der Häuser und ihre Schatten. Auch hörten wir das Miauen irgendwelcher Katzen, die sich in der Nähe herumtrieben.
»Es ist zum Heulen«, sagte St. Immel. »Wir können es uns aussuchen, wohin er geritten ist…«
»Hören Sie!« unterbrach ich ihn, denn ich hatte etwas vernommen. Kein Hufschlag, sondern ein dumpfes Klopfen. Diese Geräusche entstehen, wenn jemand gegen eine Tür hämmert.
Der Reiter hatte sein Ziel erreicht!
Ich dachte daran, daß wir dies hatten verhindern wollen. Das war nun nicht mehr möglich. Und diejenige Person, die im Haus wohnte, an dessen Tür er angeklopft hatte, würde ihm wahrscheinlich öffnen.
»Wo kann er stecken?« fragte ich St. Immel. »Überlegen Sie um Himmels willen!«
»Es
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