Die Kreuzzüge
die Muslime, doch dieses Ereignis hatte 683 stattgefunden, konnte also kaum als akute Angriffshandlung gewertet werden. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts war die Kirche vom Heiligen Grab, die nach christlichem Glauben am Ort von Christi Kreuzigung und Auferstehung errichtet worden war, teilweise von dem unberechenbaren Fatimiden-Kalifen Hakim zerstört worden. Seine anschließenden Verfolgungsmaßnahmen gegen die örtliche christliche Bevölkerung hielten mehr als ein Jahrzehnt an und fanden erst ein Ende, als er sich selbst zum Gott erklärte und seine Aggressionen gegen seine eigenen muslimischen Untertanen wandte. 1027 erreichten die Spannungen einen neuen Höhepunkt, als Muslime angeblich Steine auf das Gelände des Heiligen Grabes warfen. Später berichteten lateinische Christen, die versuchten, Pilgerreisen in die Levante zu unternehmen – es waren nach wie vor viele Pilger unterwegs –, von Schwierigkeiten, die heiligen Orte zu besuchen, und dass Christen der Ostkirche im muslimischen Palästina unterdrückt würden.
Zwei arabische Zeugnisse bieten wichtige, allerdings widersprüchliche Einsichten zu diesen Fragen. Ibn al-Arabi, ein muslimischer Pilger aus Spanien, der 1092 ins Heilige Land aufbrach, beschrieb Jerusalem als blühendes Zentrum religiöser Verehrung für Muslime, Christen und Juden gleichermaßen. Er notierte, dass es Christen gestattet war, ihre Kirchen in gutem Zustand zu erhalten, und es findet sich bei ihm keinerlei Hinweis darauf, dass Pilger, seien es nun Griechen oder Lateiner, behindert oder misshandelt worden wären. Im Unterschied dazu schrieb der Chronist al-Azimi aus Aleppo Mitte des 12. Jahrhunderts: »Die Leute in den Häfen Syriens verboten den fränkischen und byzantinischen Pilgern, nach Jerusalem weiterzureisen. Die Überlebenden berichteten das in ihre Heimat. Daher bereiteten sie sich auf eine militärische Invasion vor.« Offensichtlich glaubte zumindest al-Azimi, dass muslimische Übergriffe der Grund für die Kreuzzüge waren. 12
Ausgehend von dem, was an Zeugnissen auf uns gekommen ist, könnte man die Frage also in beide Richtungen entscheiden. 1095 befanden sich Muslime und Christen bereits seit Jahrhunderten im Kriegszustand; auch wenn das schon lange zurücklag, hatte der Islam ohne Zweifel christliches Gebiet erobert, darunter Jerusalem; und Christen, die im Heiligen Land lebten oder es besuchten, wurden möglicherweise [41] Opfer von Verfolgungen. Andererseits gab es im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufbruch zum ersten Kreuzzug keinerlei ersichtlichen Hinweis, dass ein gigantischer, nationenübergreifender Krieg unmittelbar bevorstand oder nicht mehr zu vermeiden war. Weder war der Islam im Begriff, eine größere Offensive gegen den Westen zu unternehmen, noch planten muslimische Herrscher des Vorderen Orients ethnische Säuberungen, und sie unterwarfen auch keine religiöse Minderheit anhaltender Verfolgung. Möglicherweise gab es zwischen christlichen und muslimischen Nachbarn Phasen, in denen von einem friedlichen Nebeneinander kaum mehr die Rede sein konnte, vielleicht gab es auch vereinzelt Ausbrüche von Intoleranz in der Levante, aber darin unterschied sich die Situation nicht von den damals auch andernorts herrschenden politischen, militärischen und sozialen Auseinandersetzungen.
ERSTER TEIL
AUFBRUCH DER KREUZFAHRER
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[45] HEILIGER KRIEG, HEILIGES LAND
A n einem Vormittag im späten November des Jahres 1095 hielt Papst Urban II. eine Predigt, die der Geschichte Europas eine ganz neue Richtung geben sollte. Die Menschenmenge, die sich auf einem kleinen Feld außerhalb der Stadtgrenzen von Clermont versammelt hatte, hörte gebannt seinen aufwühlenden Worten zu, in den folgenden Monaten hallte diese Botschaft im ganzen Abendland wider und entfachte einen erbitterten heiligen Krieg, der sich über Jahrhunderte hinziehen sollte.
Urban erklärte, das Christentum sei in äußerster Gefahr und werde von Invasion und entsetzlicher Unterdrückung bedroht. Die Heilige Stadt Jerusalem befand sich nun in der Hand von Muslimen – »einem Volk [. . .], das Gott fremd ist« und das für seinen Hang zu ritueller Folter und unsäglichen Schändlichkeiten bekannt war. Er rief das lateinische Europa auf, sich gegen diesen angeblich grausamen Feind als »Soldaten Christi« zu erheben, das Heilige Land zurückzugewinnen und die Christen des Ostens aus der »Knechtschaft« zu befreien. Zehntausende Männer, Frauen und Kinder ließen sich von dem Versprechen
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