Die Kreuzzüge
was sich danach zutrug. Es ist nicht zu leugnen, dass es unter der Oberfläche der Beziehungen zwischen den Kreuzfahrern und den Byzantinern Unterströmungen von misstrauischer Vorsicht bis hin zur Antipathie gab. Auch kamen bei internen Machtkämpfen gelegentliche Ausbrüche von Missmut vor. Doch überwogen zumindest anfänglich die Phasen konstruktiver Zusammenarbeit. 12
Um den Zug der ersten Kreuzfahrer durch Byzanz und darüber hinaus richtig zu verstehen, muss man sich die Vorstellungen und Vorurteile der Franken als auch der Griechen vor Augen führen. Allgemein verbreitet ist ja die Auffassung, dass Europa im Blick auf Reichtum, Macht und Kultur schon seit je vom Westen dominiert wurde. Im 11. Jahrhundert aber lagen das Zentrum und der Schwerpunkt der Kultur im Osten, in Byzanz, dem Erben von Macht und Glanz des antiken Griechenlands und Roms, der Fortsetzung des beständigsten Reiches der bekannten Welt. Alexios konnte den Ursprung seines Kaisertums bis auf Augustus und Konstantin den Großen zurückführen; den Franken erschienen der Kaiser und sein Reich daher als fast mystischer Inbegriff von Majestät.
Als die Kreuzfahrer in Konstantinopel eintrafen, konnte sich dieser Eindruck nur verstärken. Sie standen vor den kolossalen Landmauern, die sich über 6 Kilometer erstreckten, bis zu 5 Meter dick und 20 Meter hoch waren, und es stand außer Frage, dass sie das Herz der »Supermacht« Europas vor sich hatten. Für die Ankömmlinge, denen die Gunst gewährt wurde, die Stadt selbst betreten zu dürfen, vervielfachten sich die Wunder noch. Hier lebte ungefähr eine halbe Million Menschen, was die Einwohnerzahl noch der größten Stadt im lateinischen Europa um ein Zehnfaches übertraf. Die Besucher durften die Hagia Sophia bestaunen, die eindrucksvollste Kirche der Christenheit, und die kolossalen Statuen der legendären Vorfahren des Kaisers bewundern. Konstantinopel barg außerdem eine unübertreffliche Sammlung heiliger Reliquien, darunter die Dornenkrone Christi, Haarlocken der Jungfrau Maria, mindestens zwei Köpfe von Johannes dem Täufer und die Gebeine nahezu sämtlicher Apostel.
Es kann nicht erstaunen, dass die meisten Kreuzfahrer selbstverständlich [62] davon ausgingen, ihr Feldzug werde im Dienst des Kaisers beginnen. Alexios seinerseits entbot den Kreuzfahrern einen vorsichtigen Willkommensgruß, indem er ihnen von den Grenzen seines Reiches bis zu seiner Hauptstadt stets wachsames Geleit gab. Für ihn war der Kreuzzug ein militärisches Werkzeug, das er zur Verteidigung seines Reiches einzusetzen gedachte. Er hatte im Jahr 1095 Papst Urban um Hilfe gebeten, und jetzt war er mit einer Horde lateinischer Kreuzfahrer konfrontiert. Doch obwohl ihn ihre ungezügelte Wildheit befremdete, erkannte er, dass er die rohe Vitalität der Franken für seine Interessen einspannen konnte. Wenn er vorsichtig und überlegt damit umging, konnte sich der Kreuzzug als die entscheidende Waffe in seinem Kampf gegen die seldschukischen Türken erweisen, mit dem er Kleinasien zurückzuerobern gedachte. Sowohl die Griechen als auch die Lateiner waren also bereit zu gemeinsamem Vorgehen, dennoch waren bereits Keime der Zwietracht vorhanden. Die meisten Franken erwarteten, dass der Kaiser selbst die Führung ihrer Heere übernehmen und sie als Teil eines großen Truppenbündnisses bis vor die Tore Jerusalems leiten werde. Das aber war ganz und gar nicht die Absicht von Alexios. Für ihn standen immer die Belange von Byzanz und nicht die der Kreuzfahrer an erster Stelle. Er wollte die Lateiner unterstützen und aus ihren etwaigen Erfolgen gern seinen Nutzen ziehen, vor allem wenn sie es ihm ermöglichten, die Bedrohung durch den Islam abzuwehren und womöglich sogar die strategisch hoch bedeutsame syrische Stadt Antiochia einzunehmen. Niemals aber würde er den Sturz seiner Dynastie oder eine Invasion in sein Reich riskieren, indem er sich an die Spitze eines unabsehbaren Feldzugs ins ferne Heilige Land setzte. Diese Kluft zwischen den Zielen und Erwartungen beider Seiten sollte später tragische Konsequenzen haben.
Im Dienst des Kaisers
Alexios war entschlossen, gegenüber den Franken seine Autorität geltend zu machen, und nutzte den zersplitterten Zustand des Kreuzzugsheers sehr geschickt und bewusst aus, indem er mit jedem Fürsten bei dessen Ankunft in Konstantinopel einzeln verhandelte. Er setzte auch den überwältigenden Eindruck seiner großen Hauptstadt ein, um die Lateiner einzuschüchtern. Am 20. Januar
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