Die Kreuzzüge
Sprungbrett nach Ägypten. Sollte es den Franken gelingen, die Stadt unzerstört einzunehmen, dann hätte Richard über einen Brückenkopf verfügt, von dem aus er nicht nur Jerusalem, sondern auch das Reich am Nil bedrohen konnte. Saladin wusste, dass ihm für einen Zweifrontenkrieg die Ressourcen fehlten; die Verteidigung der Heiligen Stadt hatte Vorrang, daher ordnete er an, die Mauern von Askalon zu schleifen. Leicht dürfte ihm diese Entscheidung nicht gefallen sein – der Sultan soll gesagt haben: »Bei Gott, ich würde lieber alle meine Söhne verlieren, als auch nur einen einzigen dieser Steine niederzureißen« –, doch es führte kein Weg daran vorbei. Die Zeit drängte, denn wenn Richard weitermarschierte, konnte er bald schon den wichtigen Hafen einnehmen. Saladin entsandte daher al-Adil, der die Kreuzfahrer bei Jaffa im Auge behalten sollte, und eilte dann selbst mit al-Afdal südwärts, um die entsetzliche Arbeit zu überwachen. Tag und Nacht, in ständiger Sorge, der Feind könnte schon auftauchen, trieb er seine Soldaten zu äußerster Eile an. 1
Als die Abgesandten Gottfried und Wilhelm zurückkehrten und berichteten, was sie in Jaffa gesehen hatten, bestand für den König noch die Möglichkeit zu handeln. Den ganzen Sommer hindurch hatte er es geflissentlich vermieden, seine Ziele zu benennen, aber jetzt stand eine eindeutige Entscheidung an. Für ihn schien die Sache klar: Die Eroberung von Askalon musste der folgerichtige nächste Schritt für den Kreuzzug sein. Als Befehlshaber wusste er, dass die bisherigen Erfolge seines Heeres der [514] Überlegenheit zur See zu verdanken waren. Wenn sich der Kreuzzug weiter an der Küste entlang bewegte, konnte die Seeherrschaft der Lateiner im Mittelmeer verhindern, dass ihr Landheer abgeschnitten und aufgerieben wurde, weil ja ständig ein Versorgungs- und Nachschubkanal offen stand. Bis jetzt hatten die Teilnehmer des dritten Kreuzzugs eigentlich noch überhaupt nicht in feindlichem Territorium gekämpft; der echte Kampf würde erst beginnen, wenn sie sich landeinwärts wandten. Wenn sie die Stadt Askalon erobern und wiederaufbauen konnten, dann musste es gelingen, Saladins Macht in Palästina weiter zurückzudrängen, indem an der Küste eine sichere Enklave geschaffen wurde, die Richard künftig dann auch beide Optionen offenhielt: sowohl den Angriff auf Jerusalem als auch den auf Jaffa.
Als Richard in Jaffa ankam, erwartete er offenbar, man werde ihm, dem König und Befehlshaber, gehorchen und der Marsch in Richtung Süden könne praktisch ohne Pause fortgesetzt werden. Allerdings hatte er einen entscheidenden Punkt übersehen. Die Gattung Krieg, zu der auch der Kreuzzug gehörte, war nicht nur von den Regeln der Militärwissenschaft noch auch nur von Postulaten der Politik, der Diplomatie oder der Ökonomie geprägt. Hier handelte es sich um einen Konflikt, der mit Religion und Mentalitäten reichlich unterfüttert war – er hing ab vom überwältigenden, anspruchsvollen religiösen Reiz eines Zieles wie Jerusalem, und allein ein solches Ziel vermochte es, in dem zusammengewürfelten Heer eine einheitliche Ausrichtung herzustellen. Für die überwiegende Mehrheit der Männer im disparaten Kreuzfahrerheer Richards aber war der Weitermarsch von Jaffa aus in Richtung Süden gleichbedeutend damit, dass sie Jerusalem nicht nur im wörtlichen Sinne links liegen lassen mussten.
Bei einer Ratsversammlung, die Mitte September 1191 außerhalb Jaffas abgehalten wurde, sah Richard Löwenherz sich mit diesem Dilemma konfrontiert. Er versuchte alles, um seinen Plan durchzusetzen, Askalon zu erobern, doch ein großer Teil der lateinischen Edelleute widersetzte sich ihm – darunter auch Hugo von Burgund und die Franzosen –; alle plädierten für eine Verstärkung Jaffas und den direkten Vorstoß landeinwärts in Richtung Jerusalem. Letztendlich »setzte sich die laute Stimme des Volkes durch«, wie ein Kreuzfahrer es formulierte, und man beschloss, zu bleiben, wo man war. Richard scheint damals nicht bemerkt zu haben, dass er eine entscheidende Prüfung nicht bestanden [515] hatte. Die Ereignisse in Jaffa offenbarten einen bedenklichen Mangel an Führungsqualitäten. Seit seiner Kindheit hatte er eine solide Ausbildung in kriegerischen Fertigkeiten erhalten; seit 1189 hatte er sich als König bewähren können. Aber die Realität eines Kreuzzugs hatte er bis dato noch nicht wirklich verstanden.
Mit der Entscheidung, in Jaffa zu bleiben, verlor der Kreuzzug
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