Die Kreuzzüge
Umständen der Belagerung vor. Sogar Peter der Einsiedler, einst Sprachrohr der Begeisterung für den Kreuzzug, versuchte zu desertieren. Er wurde dabei erwischt, wie er im Schutz der Dunkelheit aufbrechen wollte, und von Tankred kurzerhand wieder zurückgeholt. Ungefähr zur selben Zeit verließ Tatikios die Expedition, offenbar, um in Kleinasien für Verstärkung und Vorräte zu sorgen. Er kam nicht wieder zurück, doch die Byzantiner auf Zypern schickten den Franken vor Antiochia Verpflegung und Ausrüstung.
Ein harter Kern von Kreuzfahrern überlebte die zahlreichen Entbehrungen dieses bitteren Winters, und als der Frühling kam, neigte sich die Waagschale langsam zu ihren Gunsten. Das Netz von Versorgungsstationen, das die Franken eingerichtet hatten, trug erheblich zur Erleichterung der Situation in Antiochia bei: Vorräte aus so weit entfernten Gebieten wie Kilikien und später auch aus Edessa von Balduin von Boulogne trafen ein. Noch wichtiger war die Unterstützung, die über das Mittelmeer kam und durch die mittlerweile von den Lateinern eroberten nordsyrischen Häfen Latakia und St. Simeon geschleust wurde. Am 4. März landete im Hafen von St. Simeon eine kleine Flotte englischer Schiffe mit Verpflegung, Baumaterialien und Handwerkern. Wenige Tage später eskortierten Bohemund von Tarent und Raimund von Toulouse gegen den heftigen Widerstand muslimischer Truppen aus Antiochia die wertvolle Fracht von der Küste her ins eigene Lager. Die neu angelieferten Materialien gestatteten es den Franken, ein entscheidendes Schlupfloch in ihrem Belagerungsring zu schließen.
Bisher hatten die Mannschaften von Yaghi-Siyan das Stadttor, das auf die Brücke hinausführte, relativ ungestört benutzen können und von [84] dort aus auch die Straßen nach St. Simeon und Alexandrette zu sichern vermocht. Die Christen befestigten jetzt eine aufgegebene Moschee, die in der Ebene vor diesem Zugang lag, und bezogen damit einen Festungsstützpunkt, den sie La Mahomerie (Heilige Maria) tauften; von hier aus konnten sie die Umgebung kontrollieren. Graf Raimund bot an, die hohen Kosten für die Besetzung dieses Vorpostens persönlich zu übernehmen, allerdings waren seine Motive wohl nicht völlig frei von Eigennutz. Zu Beginn der Belagerung hatten normannische Truppen das Gebiet vor dem St.-Pauls-Tor besetzt; sie würden also die Ersten sein, die bei einem Sieg der Kreuzfahrer die Stadt stürmen konnten. Damit hatte sich Bohemund eine gute Ausgangsposition geschaffen, um eigene Ansprüche geltend zu machen. Schon früher waren die Fürsten dahingehend übereingekommen, dass sie sich an das »Recht durch Eroberung« halten wollten, wonach Beutegut dem zufällt, der es erobert hat oder für sich beansprucht. Indem Raimund seine eigene Gefolgschaft vor dem zweiten großen Tor Antiochias postierte, konnte er seinem Rivalen nun auf Augenhöhe begegnen.
Innerhalb eines Monats hatten die Franken einen weiteren Belagerungsstützpunkt errichtet, indem sie ein Kloster in der Nähe des St.-Georgs-Tores, des letzten offenen Zugangs zur Stadt Antiochia, befestigten. Tankred erklärte sich bereit, diesen Vorposten zu besetzen, allerdings nur gegen Zahlung der beträchtlichen Summe von 400 Silbermark. Zu Beginn des Kreuzzugs hatte Tankred noch zur zweiten Riege der Adligen gehört und ganz im Schatten seines ruhmreichen Onkels Bohemund gestanden. Inzwischen gewann er allmählich eigenes Profil. Nach seinen Großtaten in Kilikien trugen jetzt dieses ehrenvolle Kommando und der damit verbundene neue Wohlstand dazu bei, seinen Status zu verbessern und ihm ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu verleihen. 4
VERRAT
Im April 1098 hatten die Kreuzfahrer die Schlinge um Antiochia zugezogen. Yaghi-Siyan konnte zwar immer noch in gewissem Umfang durch das Eiserne Tor Nachschub erhalten, doch seine Möglichkeiten, die Franken zu peinigen, waren empfindlich geschrumpft. Nun war es an den Muslimen, sich vor Isolation, schwindenden Ressourcen und einer [85] bevorstehenden Niederlage zu fürchten. Doch große Sorge bereitete den Kreuzfahrern nach wie vor, dass die Muslime sich zu einem Entsatzheer zusammenschließen könnten, um ihren Glaubensbrüdern in Antiochia zu Hilfe zu kommen, und dass sie selbst dann zwischen zwei feindlichen Heeren eingeschlossen wären.
Die Lateiner hatten von der Borniertheit der einzelnen Parteiungen im muslimischen Syrien schon sattsam profitiert. Duqaq von Damaskus und Ridwan von Aleppo dachten gar nicht daran, ihre
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