Die Kreuzzüge
Waffenstillstand aushandeln können, um die Bedrohung durch die muslimische Besatzung Antiochias abzuwenden. Sie hätten dann mit nur geringer Verzögerung ihren Weg fortsetzen können. Dass sie sich stattdessen dafür entschieden, Antiochia zu belagern, lässt wichtige Rückschlüsse auf ihre Pläne, ihre Strategie und ihre Beweggründe zu. 1
Antiochia
Zunächst einmal scheint Antiochia der Hauptzweck des Bündnisses zwischen den Kreuzfahrern und Byzanz gewesen zu sein. Gegründet 300 v. Chr. durch Antiochos, einen der Generäle Alexanders des Großen, [76] war die Stadt für die Erschließung des Mittelmeerhandels ideal gelegen. Sie diente als ein dynamischer Umschlagplatz zwischen Ost und West und gehörte zu den drei wichtigsten Städten der römischen Welt, ein Zentrum des Handels und der Kultur. Während der ersten Expansionsphase des Islams im 7. Jahrhundert n. Chr. allerdings ging diese Bastion des östlichen Imperiums an die Araber verloren. Ein erstarkendes Byzanz eroberte Antiochia im Jahr 969 zurück, doch die vorrückenden Seldschuken entrissen die Stadt erneut der christlichen Herrschaft. Es war einer der glühendsten Wünsche Alexios’ I., dem diese komplexe Vorgeschichte nur zu klar vor Augen stand, Antiochia wieder in sein Reich einzugliedern und es zum Eckstein einer neuen Ära griechischer Herrschaft über Kleinasien zu machen. Aus diesem Grund hörte er nicht auf, die Franken während des Sommers 1097 und darüber hinaus zu unterstützen. Er hoffte, den unerhörten Zuwachs an Schlagkraft, der ihm durch den Kreuzzug zuteil geworden war, für seine Sache nutzen und als Preis Antiochia für sich beanspruchen zu können.
Der Plan, die Stadt einzunehmen, war also durchaus auch Ausdruck der Fortsetzung der griechisch-lateinischen Zusammenarbeit, doch hieß das nicht, dass die Kreuzfahrer einfach nur als Handlanger ihrer Verbündeten fungierten. Antiochia hatte, ebenso wie Jerusalem, eine tief verwurzelte Bedeutung für die Gläubigen. In ihr sollte der Überlieferung zufolge Petrus, der Apostelfürst, die erste christliche Kirche gegründet haben, und es gab immer noch eine herrliche Basilika in der Stadt, die dem Heiligen geweiht war. Außerdem war Antiochia der Sitz eines der fünf Patriarchen, der Oberhäupter der Christenheit. Die Befreiung Antiochias stand also durchaus im Einklang mit den spirituellen Zielen des Kreuzzugs. Mit der Zeit stellte sich allerdings auch heraus, dass führende Kreuzfahrer wie etwa Bohemund von Tarent und Raimund von Toulouse ihre eigenen eher weltlichen, ganz egoistischen Wünsche auf Antiochia richteten und Ziele verfolgten, die womöglich nicht mit den Erwartungen des Kaisers von Byzanz vereinbar waren.
Abgesehen von Fragen der lateinisch-griechischen Beziehungen und Gebietseroberungen verweist der Versuch, Antiochia zu erobern, auf eine wichtige Eigenschaft der Kreuzfahrer. Sie waren nicht, wie einige mittelalterliche und moderne Kommentatoren zu wissen glaubten, eine wilde Horde zügelloser Barbaren, die planlos in Richtung Jerusalem strömten. Die Ereignisse des Jahres 1097 zeigen, dass ihre Aktionen auf [78] mehr als einem Minimum an strategischer Planung beruhten. Die Belagerung von Antiochia wurde mit einiger Sorgfalt vorbereitet; man eroberte mehrere kleine Siedlungen in der Umgebung, die als logistische Zentren für den Nachschub dienten, und bemühte sich um überseeische Kontakte, um die Unterstützung vom Meer her sicherzustellen; einige dieser Beziehungen waren wohl schon Monate zuvor geknüpft worden. Außerdem rechneten die Franken fest damit, dass sie vor Antiochia durch griechische Truppenkontingente unter Alexios und durch später eintreffende Gruppen von Kreuzfahrern aus dem Westen unterstützt würden, daher befestigten sie die sicherste und kürzeste Route von Kleinasien nach Syrien über den Belen-Pass. Ihr gesamtes Verhalten im Herbst des Jahres 1097 offenbart, dass die Franken fest entschlossen waren, Antiochia zu erobern, obwohl sie genau wussten, dass dies keine leichte Aufgabe war.
Doch selbst unter diesen Voraussetzungen waren die Kreuzfahrer, als sie Ende Oktober auf die Stadtmauern zumarschierten, von dem gewaltigen Umfang der Verteidigungsanlagen eingeschüchtert. Ein Franke schrieb in einem Brief nach Europa, dass auf den ersten Blick die Stadt »unglaublich stark befestigt und nahezu uneinnehmbar« wirkte. Antiochia lag eingebettet zwischen zwei Bergen – dem Staurin und dem Silpius – sowie dem Fluss Orontes (Nahr al-Asi). Im
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