Die Kreuzzüge
trennten sie mehr als 100 muslimischen Toten die Köpfe ab, steckten sie auf Speere und marschierten damit schadenfroh vor den Mauern Antiochias auf und ab, »um den Schmerz der Türken zu vergrößern«. Nach einem anderen Gefecht schlichen sich die Muslime nach Einbruch der Dämmerung aus der Stadt hinaus, um ihre Toten zu begraben. Als das die Christen bemerkten, so ein lateinischer Augenzeuge,
befahlen sie, die Leichen auszugraben und die Gräber zu zerstören. Die toten Männer wurden aus ihren Gräbern herausgezogen. Sie warfen sämtliche Leichen in eine Grube, trennten ihre Köpfe ab und brachten sie zu unseren Zelten. Als die Türken das sahen, waren sie sehr bestürzt und außer sich vor Trauer; sie klagten viele Tage lang und taten nichts anderes als weinen und heulen.
Auf der gegnerischen Seite befahl Yaghi-Siyan öffentliche Schikanen an den christlichen Einwohner Antiochias. Der griechische Patriarch, der schon seit langem in der Stadt friedlich residiert hatte, wurde kopfüber an der Festungsmauer aufgehängt und mit eisernen Ruten ausgepeitscht. Ein lateinischer Chronist berichtet, dass »viele Griechen, Syrer und Armenier, die in der Stadt lebten, von wütenden Türken abgeschlachtet [82] wurden. Vor den Augen der Franken warfen sie die Köpfe derer, die sie umgebracht hatten, mit Katapulten und Schleudern über die Mauern. Das vor allem bestürzte unsere Leute.« Kreuzfahrer, die den Muslimen in die Hände fielen, mussten häufig Ähnliches über sich ergehen lassen. Der Archidiakon von Metz wurde in einem Garten nahe der Stadt beim »Würfelspiel« mit einer jungen Frau gefangen genommen. Er wurde auf der Stelle enthauptet, die Frau wurde in die Stadt zurückgeholt, vergewaltigt und getötet. Am folgenden Morgen wurden die Köpfe der beiden ins lateinische Lager katapultiert.
Neben dem Austausch von Bösartigkeiten war der Kampf um die Ressourcen ein Hauptthema der Belagerung. Die verzweifelte Situation, bei der sich beide Seiten gegenseitig belauerten und es beiden darum ging, den anderen zu überleben, hing entscheidend vom Nachschub an Kämpfern, Material und allem voran Nahrungsmitteln ab. Da für die Kreuzfahrerlogistische Überlegungen die größte Rolle spielten, befanden sie sich in der schwächeren Position. Die Blockade war nicht vollständig, deshalb konnte die muslimische Besatzung der Stadt nach wie vor von außen Ressourcen und Unterstützung bekommen. Das umfangreichere Heer der Kreuzfahrer dagegen hatte seine Vorräte bald aufgebraucht und musste sich immer weiter in feindliches Gebiet vorwagen, um Proviant zu beschaffen. Im Lauf der Zeit verschlimmerte sich die Lage durch den Wintereinbruch noch. In einem Brief an seine Frau klagte Stephan von Blois: »Vor den Mauern der Stadt Antiochia litten wir den ganzen Winter hindurch für unseren Herrn Jesus Christus unter schrecklicher Kälte und unglaublichen Regengüssen. Einige Leute behaupten, dass es unmöglich ist, die Sonnenhitze in Syrien zu ertragen, das stimmt überhaupt nicht, denn der Winter dort ist unserem Winter im Westen sehr ähnlich.« Ein zeitgenössischer armenischer Christ erinnerte sich später daran, dass in diesem schrecklichen Winter »wegen des Nahrungsmangels Krankheit und Tod in solchem Ausmaß über das fränkische Heer kamen, dass von fünf Menschen einer starb, und alle anderen litten unter dem Gefühl, verlassen und weit weg von ihrer Heimat zu sein«. 3
Die Qualen im fränkischen Lager erreichten im Januar des Jahres 1098 ihren Höhepunkt. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen kamen um, geschwächt durch Unterernährung und Krankheit. Es hieß, dass die Armen »Hunde und Ratten« aßen, »die Haut von Tieren, und Getreidekörner, [83] die sie im Mist fanden«. Viele konnten diese verzweifelte Notlage nicht verstehen, sie fragten sich, warum Gott den Kreuzzug, Sein heiliges Unterfangen, aufgegeben hatte. In dieser zunehmend unerquicklichen Atmosphäre von Verdächtigungen und gegenseitigen Beschuldigungen bot der lateinische Klerus eine Antwort an: Das Unternehmen hatte sich mit Sünde befleckt. Um gegen diesen Makel vorzugehen, ordnete der päpstliche Legat Adhémar von Le Puy mehrere Reinigungsrituale an – Fasten, Beten, Almosengeben, Prozessionen. Gleichzeitig wurden die Frauen, in denen man die Quelle der Unreinheit sah, aus dem Lager vertrieben. Trotz dieser Maßnahmen verließen viele Christen Nordsyrien und flohen; die Ungewissheit der Reise zurück nach Europa zogen sie den entsetzlichen
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