Die Kreuzzüge
zu greifen und Kerboga in offenem Kampf entgegenzutreten. Ein anderer fränkischer Augenzeuge beschrieb den Einfluss der Heiligen Lanze:
[Peter] fand also die Lanze, wie er es vorhergesagt hatte, und alle waren erfüllt von großer Freude und Ehrfurcht, als sie davon erfuhren, und in der ganzen Stadt erhob sich lauter Jubel. Von dieser Stunde an bestimmten wir einen Angriffsplan, und unsere sämtlichen Führer traten unverzüglich zu einer Beratung zusammen. 8
Allerdings führt der Eindruck, der durch diese Darstellung hervorgerufen wird – dass ein ekstatischer Glaubensimpuls den Kampfgeist der Christen plötzlich belebt und erneuert und sie umgehend dazu getrieben [93] habe, ihren Feind anzugreifen –, völlig in die Irre. Zwei ganze Wochen trennten den Lanzenfund von der Schlacht, die dann gegen Kerboga ausgetragen wurde.
Zweifellos wirkte sich die «Entdeckung« des Peter Bartholomäus irgendwie auf die Moral der Kreuzfahrer aus. Für modernes Empfinden klingt die Geschichte seiner Visionen phantastisch; seine Behauptung, er habe ein echtes Überbleibsel aus dem Leben Jesu entdeckt, erscheint uns absurd, wenn nicht gar bewusst irreführend. Für die Franken des 11. Jahrhunderts jedoch, für die Heilige, Reliquien und wunderbare Vorfälle eine Selbstverständlichkeit waren, klangen die Berichte des Bauern glaubwürdig. Die Christen gründeten ihre Sicht der Welt auf ein wohlgeordnetes Glaubenssystem, in dem die toten Heiligen als Vermittler des Willens Gottes auf der Erde fungierten und ihre heiligen Reliquien als Mittel angesehen wurden, durch die die göttliche Macht auf die Erde geleitet wurde. Deshalb waren auch die meisten Kreuzfahrer aufgeschlossen und bereit, an die Echtheit der Heiligen Lanze zu glauben. Adhémar von Le Puy scheint der Einzige unter den Anführern des Kreuzzugs gewesen zu sein, der Zweifel hegte, die aber wohl vor allem auf den niedrigen sozialen Status des Finders zurückzuführen waren. Doch obwohl die Lateiner durch die Auffindung der Reliquie sicher in Hochstimmung versetzt wurden, hielt die Lähmung durch Furcht und Ungewissheit während der gesamten zweiten Julihälfte an. Das Auffinden der Lanze gab keinen umwälzenden Handlungsimpuls, und noch weniger kann man in ihm einen entscheidenden Wendepunkt im Verlauf des gesamten Kreuzzugs sehen. 9
Am 24. Juni standen die Kreuzfahrer kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch, daher beauftragten sie zwei Gesandte, die mit Kerboga über einen Friedensschluss verhandeln sollten. Von Historikern wurde diese Aktion in unkritischer Übereinstimmung mit der Selbstdarstellung der Lateiner als Übung in militärischem Draufgängertum interpretiert. In Wahrheit war es wohl eher ein verzweifelter Versuch, Übergabebedingungen auszuhandeln. In einer unparteiischen ostchristlichen Quelle wird beschrieben, wie »die Franken akut durch eine Hungersnot bedroht waren und [daher] beschlossen, von Kerboga ein Versprechen auf Begnadigung zu erbitten, dergestalt dass sie die Stadt in seine Hände übergeben und in ihre eigenen Länder zurückkehren würden«. Eine spätere arabische Chronik scheint diese Version des Geschehens zu stützen; [94] sie berichtet, dass die Anführer der Kreuzfahrer »ein Schreiben an Kerboga schickten, in dem sie ihn um sicheren Abzug durch sein Gebiet baten, doch er wies das Ansinnen zurück und sagte: ›Ihr müsst euch euren Weg nach draußen erkämpfen.‹«
Damit lösten sich sämtliche Chancen, aus Antiochia zu entkommen, in Luft auf. Die lateinischen Fürsten erkannten, dass es nur noch die eine Möglichkeit einer offenen Schlacht gab, wie ungünstig die Erfolgsaussichten auch sein mochten, und sie begannen daher mit den Vorbereitungen zu einer letzten, selbstmörderischen Konfrontation. Nach den Worten eines lateinischen Zeitgenossen waren sie zu dem Schluss gekommen, dass »es besser war, in der Schlacht zu sterben, als an einer grausamen Hungersnot zugrunde zu gehen, von Tag zu Tag immer schwächer zu werden, bis einen schließlich der Tod übermannt«. 10
In jenen Tagen der Entscheidung trafen die Christen allerletzte Vorbereitungen. Um die Seelen zu läutern, fanden Prozessionen statt, Priester nahmen die Beichte ab und teilten die heilige Kommunion aus. Gleichzeitig machte sich Bohemund, nun erklärter oberster Befehlshaber der Truppen, an die Ausarbeitung eines Schlachtplans. Rechnerisch waren die Franken hoffnungslos in der Minderzahl: Ihre Zahl inklusive der Nichtkämpfenden belief sich noch auf ungefähr 20
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