Die Kreuzzüge
höchstselbst seinen Anspruch auf Antiochia zu erheben; als er dann aber ausblieb, steckte man in einer Sackgasse.
Bohemund wurde häufig als der Bösewicht in dieser Episode hingestellt – seine Gier und sein Ehrgeiz fielen deutlich gegenüber Raimunds selbstlosem Eintreten für die Gerechtigkeit und die Sache des Kreuzzugs ab. Bohemund hatte zweifellos sein persönliches Wohl im Blick, doch ganz so holzschnittartig darf man diesen Protagonisten nicht zeichnen. Da die Griechen keinen Nachschub schickten, musste einer der fränkischen Fürsten in Syrien bleiben und den Oberbefehl und die Besetzung Antiochias übernehmen, wenn das fränkische Blut, das zur Eroberung der Stadt vergossen worden war, kein sinnloses Opfer gewesen sein sollte. In gewisser Hinsicht lag das Argument nahe, dass die Kreuzfahrer Glück hatten, als Bohemund sich bereit erklärte, diese Bürde zu schultern, womit er immerhin selbst der Vollendung seiner Pilgerreise nach Jerusalem entsagte. Gleichzeitig hält Raimunds angebliche Selbstlosigkeit einer genaueren Überprüfung nicht stand. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er Antiochia an Byzanz übergeben wollte, doch auch er war nicht frei von Machtgelüsten. Im weiteren Verlauf des Kreuzzugs war das Handeln des Grafen von zwei ineinander verschränkten, teilweise widersprüchlichen Zielsetzungen bestimmt: dem Wunsch, für sich selbst einen eigenen Herrschaftsbereich in der Levante zu erlangen, und gleichzeitig dem Bestreben, als Anführer des Kreuzzugs anerkannt zu werden.
Dieses zweite Ziel war der Grund, warum Raimund eine enge Beziehung zu dem Visionär Peter Bartholomäus und zum Kult um die Heilige Lanze pflegte. Den provençalischen Grafen scheint echte Verehrung für die Reliquie beseelt zu haben, daher nahm er Peter unter seine Fittiche und wurde zum wichtigsten Fürsprecher der Lanze. In den nächsten Monaten, als die Kreuzfahrer auf die dramatischen Ereignisse im Zusammenhang mit der zweiten Eroberung Antiochias und ihren offenkundig [99] wundersamen Sieg über Kerboga zurückschauten, betonten Raimund und seine Anhänger mit Nachdruck die Idee, die Lanze habe eine entscheidende Rolle bei der Rettung der Christen gespielt. Gleichzeitig berichtete Peter auch weiterhin von neuen Visionen und stilisierte sich immer mehr zum Sprachrohr Gottes. Der prophetische Bauer verkündete, der heilige Andreas habe ihm offenbart, dass »Gott der Herr dem Grafen die Lanze übergeben« habe, zum Zeichen dafür, dass Raimund als Anführer des ersten Kreuzzugs auserwählt sei. 12
Im August nahmen der Kult um die Lanze und die damit einhergehende günstige Entwicklung von Raimunds politischer Laufbahn einigermaßen makabre Züge an. Zu Lebzeiten hatte Adhémar von Le Puy Zweifel an der Echtheit der Lanze geäußert. Doch nur zwei Tage nach dem Tod des päpstlichen Legaten verkündete Peter Bartholomäus, Adhémars Geist habe ihn heimgesucht, und damit begann ein Prozess, in dem die Erinnerung an den Bischof passend verändert wurde. Er wurde in der Basilika des heiligen Petrus begraben, in ebender Grube, in der die Heilige Lanze entdeckt worden war. Die physische Verschmelzung der beiden Kulte – ein Geniestreich in Sachen Manipulation – wurde dann ab dem Moment verstärkt, da Peter Adhémars »Worte« von jenseits des Grabes weiterzuleiten begann: In ihnen wurde enthüllt, dass Adhémar nun von der Echtheit der Lanze überzeugt sei, dass seine Seele streng bestraft worden sei und dass sie Auspeitschung und Verbrennung habe erdulden müssen für die Sünde, nicht an die Reliquie geglaubt zu haben. Neben dieser offensichtlichen Kehrtwendung bezüglich der Heiligen Lanze begann der Geist des Bischofs nun auch Raimunds politische Ambitionen zu unterstützen. Bald »erklärte« Adhémar tatsächlich, dass seine ehemaligen Lehnsmannen ihre Loyalität nun auf den Grafen übertragen sollten, und er autorisierte Raimund, den neuen geistlichen Führer des Kreuzzugs persönlich auszuwählen.
Während die Kreuzfahrer in jenem langen syrischen Sommer die Zeit Monat für Monat tatenlos verstreichen ließen, setzte sich der Kult um die Heilige Lanze durch, und die Popularität und der Einfluss von Raimund von Toulouse und Peter Bartholomäus nahmen in gleichem Maße zu. Dennoch hatte es der Graf im Frühherbst noch nicht geschafft, Bohemund aus Antiochia zu verdrängen, und er konnte sich auch noch nicht selbst schlankweg zum Anführer des Kreuzzugs ernennen. Sein Einfluss war einfach noch nicht groß genug. Von
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