Die Kreuzzüge
Libanon und Palästina wurde verbannt, und die Franken, die nun nur noch von dem einen Wunsch beseelt waren, ihre Pilgerreise zur Heiligen Stadt zu vollenden, bewegten sich rasch und zielstrebig vorwärts. Dabei war es nicht nur Frömmigkeit, die ihren Schritt beschleunigte; auch strategische Erfordernisse spielten eine Rolle. Im Frühjahr war während der Belagerung von Arqa die Frage der diplomatischen Beziehungen zu Ägypten wieder aufgetaucht, als die lateinischen Gesandten, die ein Jahr zuvor den Wesir al-Afdal aufsuchen sollten, in Begleitung von Beauftragten der Fatimiden zurückkehrten. In der Zwischenzeit hatte sich vieles verändert. Al-Afdal hatte von der Panik der sunnitischen Seldschuken nach der Niederlage Kerbogas bei Antiochia profitiert und im August 1098 Jerusalem den Türken entrissen. Aufgrund dieser radikalen Verschiebung des Gleichgewichts in den Machtverhältnissen im Vorderen Orient versuchten die Anführer des Kreuzzugs, mit den Fatimiden ein Abkommen zu schließen: Sie boten an, einen Teil des von ihnen eroberten Territoriums im Austausch gegen Rechte auf die Heilige Stadt abzutreten. Aber die Verhandlungen scheiterten, als die Ägypter sich rundweg weigerten, auf Jerusalem zu verzichten. Damit sahen sich die Franken einem neuen Feind in Palästina gegenüber, und es kam zu einem Wettlauf mit der Zeit. Die Kreuzfahrer mussten die restlichen 300 Kilometer ihrer Pilgerreise so rasch wie möglich hinter sich bringen, bevor al-Afdal ein Heer aufstellen konnte, um sie abzufangen oder die Verteidigung Jerusalems mit angemessener Gründlichkeit zu organisieren.
Bei ihrem Zug nach Süden entlang der Mittelmeerküste kamen die [105] Kreuzfahrer leichter voran, weil die regionalen, relativ unabhängigen muslimischen Herrscher bereit waren, kurzfristige Waffenruhen auszuhandeln, ja sogar ihre Märkte zu öffnen, auf denen die Reisenden Proviant und sonstige Bedarfsgüter kaufen konnten. Diese Emire waren eingeschüchtert durch den Ruf der Brutalität und Unbesiegbarkeit, der den Lateinern seit Antiochia und Marrat anhaftete, und erleichtert, eine Konfrontation vermeiden zu können. Als die Franken an den größeren Städten Tyros, Akkon und Cäsarea vorbeizogen, stießen sie nur auf geringen Widerstand und stellten erleichtert fest, dass auch einige enge Pässe an der Küste unbewacht waren. Ende Mai wandten sie sich bei Arsuf landeinwärts und schlugen eine direkte Route durch das Flachland in Richtung der Berge von Judäa ein. Sie machten nur kurz Halt, als sie sich Ramla näherten, der letzten echten Festung auf dem Weg in die Heilige Stadt, doch hatten die Fatimiden sie aufgegeben. Schließlich, am 7. Juni 1099, tauchte Jerusalem vor ihnen auf. Ein lateinischer Zeitgenosse beschrieb, wie »alle Menschen in Freudentränen ausbrachen, da sie jetzt dem heiligen Ort der heiß ersehnten Stadt so nahe waren, für die sie so viel Mühsal, so viele Gefahren, so viele Arten von Tod und Hunger auf sich genommen hatten«. Al-Afdal hielt still, und so war es den Kreuzfahrern gelungen, in weniger als einem Monat vom Libanon bis nach Jerusalem zu kommen. 1
IM HIMMEL UND AUF ERDEN
Nach fast drei Jahren und einer Strecke von gut 3000 Kilometern waren die Kreuzfahrer in Jerusalem angekommen. Diese alte Stadt, das heilige Herz der Christenheit, war getränkt mit Religion. Da Christus hier gelitten hatte, war sie für die Franken die heiligste Stätte überhaupt. Innerhalb ihrer hoch aufragenden Mauern befand sich das Heilige Grab, die Kirche, die Konstantin der Große im 4. Jahrhundert n. Chr. über dem vermuteten Ort von Golgatha und dem Grab Jesu errichten ließ. Dieses eine Heiligtum barg in sich den eigentlichen Kern des Christentums: die Kreuzigung, die Erlösung, die Auferstehung. Zu Tausenden waren die Kreuzfahrer von Europa aus ostwärts gezogen, um diese eine Kirche wieder in Besitz zu nehmen – und viele glaubten, die irdische Stadt Jerusalem werde sich, wenn sie erst wieder eingenommen war, in das himmlische [106] Jerusalem, das Paradies der Christen, verwandeln. Zahlreiche wilde Prophezeiungen waren im Umlauf, dass die Tage des Jüngsten Gerichts, ausgehend von der Heiligen Stadt, sofort anbrechen würden, was der Unternehmung der Lateiner eine geradezu apokalyptische Aura verlieh.
Doch im Lauf seiner mehr als 3000-jährigen Geschichte war Jerusalem auch mit zwei anderen Weltreligionen untrennbar verschmolzen: dem Judentum und dem Islam. Auch für diese beiden Religionen war Jerusalem hoch
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