Die Kreuzzüge
Ende September an unternahm [100] er einige Feldzüge in die fruchtbare Ebene von Summaq im Südosten. Diese Unternehmungen sind oft fälschlich als Proviantbeschaffung interpretiert worden, wenn nicht gar als Versuche, einen Vorstoß nach Palästina vorzubereiten, doch in Wahrheit wollte Raimund eine eigene unabhängige Enklave gründen, von der aus er Bohemunds Herrschaft über Antiochia eingrenzen und seinen Konkurrenten im Blick behalten konnte.
Zu diesem Prozess gehörte die Eroberung von Marrat, der größten Stadt der Umgebung. Sie ergab sich nach einer harten Phase der Belagerung während der Wintermonate, und Raimund begann sofort, die Stadt zu christianisieren, Moscheen in Kirchen umzuwandeln und eine Garnison einzurichten. Kurz danach jedoch kamen die Proviantlieferungen ins Stocken, und unter den ärmeren Anhängern des Grafen breitete sich eine Hungersnot aus. Damals trug sich eine der abstoßendsten Scheußlichkeiten des Kreuzzugs zu. Eine fränkische Quelle berichtet:
Unsere Männer litten unter fürchterlichem Hunger. Ich erschaudere, wenn ich berichten muss, dass viele, die der quälende Hunger wahnsinnig gemacht hatte, den toten Sarazenen, die dort lagen, Fleischstücke aus den Hinterteilen herausschnitten. Sie brieten diese Stücke und aßen sie, gierig verschlangen sie das noch halb rohe Fleisch.
Ein lateinischer Augenzeuge vermerkte, dass »nicht nur Fremde von diesem Anblick abgestoßen waren, sondern auch viele Kreuzfahrer«. Es ist zwar kein schöner Gedanke, aber tatsächlich brachten diese grausigen Akte von Barbarei, die sogar von den fränkischen Chronisten verurteilt wurden, den Lateinern einen gewissen vorübergehenden Nutzen ein. Unter den syrischen Muslimen machte jetzt der Ruf von der Wildheit der Kreuzfahrer die Runde, und in den folgenden Monaten zogen es viele lokale Emire daher vor, mit ihren entsetzlichen neuen Feinden zu verhandeln, statt sich von ihnen abschlachten zu lassen. 13
Als nun die Monate der Zerstrittenheit und der Passivität sich dahinschleppten und eine Ratsversammlung der lateinischen Fürsten nach der anderen sich als unfähig erwies, den Streit um die Herrschaft über Antiochia beizulegen, machte sich unter den einfachen Kreuzfahrern zunehmend schlechte Stimmung breit. Es wuchs der Druck auf die Fürsten, [101] ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen und sich stattdessen wieder den eigentlichen Zielen des Kreuzzugs zu widmen. Mit einem außerordentlichen Ausbruch von Ungehorsam spitzten sich Anfang Januar 1099 die Ereignisse in Marrat zu. Ein Haufe armer Franken war so erbittert darüber, dass selbst Raimund von Toulouse, der Hüter der Heiligen Lanze, lieber um die Herrschaft über Syrien stritt, als nach Jerusalem zu ziehen, dass sie die Festungswälle von Marrat mit bloßen Händen zu schleifen begannen, indem sie die Mauern Stein für Stein niederrissen. Angesichts dieses Protests sah Raimund endlich ein, dass sich seine Hoffnung, er könne gleichzeitig den Kreuzzug anführen und Antiochia beherrschen, unmöglich erfüllen konnte. Am 13. Januar vollzog er die symbolische Geste, Marrat barfuß, nur in ein einfaches Büßerhemd gekleidet, in Richtung Süden zu verlassen; die Stadt und seine Eroberungshoffnungen ließ er als Ruinen hinter sich. Bohemund blieb unterdessen in Antiochia. Sein Traum, alleiniger Herrscher über die Stadt zu werden, hatte sich endlich erfüllt, doch hatte er mit seinem Ehrgeiz den Kreuzzug monatelang völlig unnötig aufgehalten, und, was schwerer wog, den Beziehungen zwischen den Lateinern und Byzanz ernsthaften, nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt.
Da Raimund offenbar den heiligen Krieg zu seinem obersten Ziel erklärt hatte, schlug ihm nun eine Woge des Wohlwollens entgegen, und eine Zeitlang sah es so aus, als sollte aus ihm tatsächlich der anerkannte Anführer des Kreuzzugs werden. Um sich für seinen Zug nach Palästina auch die Unterstützung der anderen Fürsten zu sichern, griff er listig zu dem Mittel, harte Währung einzusetzen. Alle konnte er nicht bestechen – Gottfried von Bouillon etwa hielt sich aus diesem Handel heraus –, doch Robert von der Normandie und sogar Tankred verlagerten nun – für 10 000 beziehungsweise 5000 solidi (Goldmünzen) – ihre Loyalität auf die provençalische Seite. Sie schlossen sich wie viele andere Christen dem Vormarsch nach Süden in Richtung Libanon an.
Raimunds Führungsposition schien nun gesichert, und dabei hätte es wohl auch bleiben können, wenn er sich
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