Die Kreuzzüge
Problem der Zeit. Die Kreuzfahrer waren ein enormes, wenn auch möglicherweise notwendiges Risiko eingegangen, als sie den Libanon so rasch durchquert hatten, ohne ihre Nachhut zu sichern oder verlässliche Verproviantierung zu organisieren. Nun waren sie viele hundert Kilometer von ihren nächsten Verbündeten entfernt und praktisch von jeder Verstärkung, jeder logistischen Unterstützung oder etwaigen Zufluchtsmöglichkeiten abgeschnitten. Zudem war ihnen ständig bewusst, dass al-Afdal in größter Eile seine ägyptischen Streitkräfte zusammenzog und nur ein Ziel kannte: die Heilige Stadt zu befreien und die Invasion der Christen zunichte zu machen. Wegen der fast selbstmörderischen Kühnheit ihres Vormarschs blieb den Kreuzfahrern nichts anderes übrig, als den Panzer der Verteidigungsanlagen Jerusalems so schnell wie möglich zu durchbrechen und sich noch vor dem Eintreffen der ägyptischen Truppen den Weg in die Stadt zu erkämpfen.
In diesem letzten, prekären Stadium ihres Unternehmens gab es unter den Franken noch rund 15 000 kampfbewährte Krieger, darunter ungefähr 1300 Ritter, doch verfügte das Heer kaum mehr über die Ausrüstung, die für eine aggressive Belagerungstechnik vonnöten war. Die Stärke der Garnison, mit der sie konfrontiert waren, ist nicht bekannt, doch waren es bestimmt mehrere tausend Mann, und mit Sicherheit befand sich auch eine Eliteeinheit von mindestens 400 ägyptischen berittenen Soldaten darunter. Jerusalems ägyptischer Kommandant Iftikhar ad-Daulah hatte in der Zwischenzeit alles getan, um der Offensive der Franken effektiv begegnen zu können: Er hatte die Umgebung der Stadt verwüsten, Brunnen vergiften und Bäume fällen lassen, außerdem vertrieb er viele ostchristliche Bewohner aus der Stadt, um einem Verrat von innen zuvorzukommen. Als die Kreuzfahrer am 13. Juni, nur sechs Tage nach ihrem Eintreffen, den ersten direkten Angriff wagten, leisteten die muslimischen Verteidiger erbitterten Widerstand. Zu diesem Zeitpunkt besaßen die Franken nur eine einzige Sturmleiter, ein äußerst magerer Bestand, doch hatten die Verzweiflung und das prophetische Drängen eines Einsiedlers, der ihnen auf dem Ölberg begegnet war, sie von dem Wagnis eines Angriffs überzeugt. Tatsächlich führte Tankred einen machtvollen Schlag gegen die Wälle um das Nordwestquartier der Stadt und fast gelang ihm ein Durchbruch. Man richtete erfolgreich die [110] einzige Leiter auf, und die lateinischen Truppen kletterten rasch nach oben und versuchten, die Mauer zu übersteigen, aber dem ersten Mann, der sich an der Brüstung hochzuziehen versuchte, wurde sofort von einem mächtigen muslimischen Schwerthieb die Hand abgeschlagen, und damit war der Anschlag gescheitert.
Nach dieser entmutigenden Niederlage überdachten die fränkischen Fürsten ihre Strategie und beschlossen, keinen weiteren Angriff mehr zu unternehmen, bevor nicht die dafür notwendige Kampfausrüstung zur Verfügung stand. Als nun eine fieberhafte Suche nach dem erforderlichen Material begann, spürten die Kreuzfahrer allmählich die Auswirkungen des brütend heißen palästinischen Sommers. Nicht mehr der Proviant war jetzt die Hauptsorge; von Ramla war Getreide gebracht worden. Stattdessen begann die Wasserknappheit die Kampfbereitschaft der Lateiner zu zerrütten. Da sämtliche Wasserlöcher in der näheren Umgebung verunreinigt waren, sahen sich die Christen gezwungen, die weitere Umgebung nach Trinkwasser abzusuchen. Ein Franke berichtet verzweifelt: »Die Situation war so schlimm, dass jeder, der in Gefäßen faules Wasser ins Lager brachte, dafür verlangen konnte, was er wollte, und wenn jemand frisches Wasser haben wollte, konnte er für fünf oder sechs Pfennige nicht genug bekommen, um seinen Durst auch nur einen Tag lang zu löschen. Und Wein wurde überhaupt nicht mehr oder nur noch höchst selten auch nur erwähnt.« Einige der Ärmeren starben, nachdem sie dreckiges, mit Blutegeln versetztes Moorwasser getrunken hatten. 3
Zum Glück für die Kreuzfahrer kam genau zu der Zeit, als die Wasserknappheit lebensbedrohlich wurde, Hilfe von offenbar unerwarteter Seite. Mitte Juni legte eine Flotte aus sechs Genueser Schiffen in Jaffa an, einem kleinen natürlichen Hafen an der Mittelmeerküste, der Jerusalem am nächsten lag. Die Besatzung, darunter auch einige kundige Handwerker, machte sich auf den Weg, um sich den Belagerern Jerusalems anzuschließen, und sie brachten auch eine große Menge an Rüstungsmaterialien
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