Die Kreuzzüge
Katastrophe von Harran. Nach den Ereignissen des Jahres 1119 jedoch – diesem »Schmerz, größer als alle anderen Schmerzen«, der »alle Freude fortnahm und die Grenzen und das Maß allen Elends überschritt« – konnte man einer quälenden Frage, die ins Zentrum des Glaubenssystems traf, das der Kreuzzugsidee und der Besiedlung von Outremer zugrunde lag, nicht mehr aus dem Weg gehen: Wenn der heilige Krieg tatsächlich dem Wirken Gottes entsprach, wenn er aus Seinem göttlichen Willen Rechtfertigung und Ermächtigung bezog, wie waren dann Niederlagen zu erklären? Die Antwort lautete: aufgrund von Sünde. Ein Erfolg der Muslime im Krieg um die Herrschaft über die Levante war eine im Himmel verfügte Strafe für christliches Fehlverhalten. Zum Sünder – oder zum Sündenbock – auf dem Blutfeld wurde Fürst Roger erklärt, der nun als Ehebrecher und Usurpator gegeißelt wurde. In der Folgezeit sollte die Vorstellung von Sündhaftigkeit als Grund für Niederlagen immer mehr Bedeutung erlangen, und es fiel immer neuen Individuen und Gruppen die Rolle zu, für den wechselnden Kriegsverlauf verantwortlich gemacht zu werden. 3
[186] DER UMGANG MIT NIEDERLAGEN
In gewisser Weise stellte sich die Besorgnis wegen der Ereignisse auf dem Blutfeld als unbegründet heraus. Von Aleppo ging keine Bedrohung mehr aus, und Il-ghazi starb im Jahr 1122, ohne noch einen weiteren nennenswerten Sieg über die Franken errungen zu haben. In den folgenden zwei Jahrzehnten blieb der Islam im Vorderen Orient uneins, verstrickt in interne Machtkämpfe – es gab kaum noch gemeinsame Anstrengungen, sich in einen Dschihad gegen Outremer zu stürzen. Es waren eher die Lateiner, die in dieser Periode eine Reihe bedeutender Eroberungen machten. Balduin II. gewann für Antiochia die verlorenen Gebiete in der Summaq-Ebene und östlich der Belus-Berge zurück. In einer anderen strategisch wichtigen Region – diesmal zwischen Jerusalem und Damaskus – konnte ein wichtiger Stützpunkt gesichert werden, als die Franken die Festungsstadt Banyas einnahmen, am Ostufer des oberen Jordans, von wo aus die gesamte Terre de Sueth überwacht werden konnte. Im Jahr 1142 unterstützte der König von Jerusalem außerdem den Bau von Kerak, einer größeren neuen Burg in Transjordanien. Diese Festung, erbaut auf einem Felsvorsprung über der jordanischen Wüste, sollte eine der wichtigsten großen »Kreuzfahrer«-Festungen der Levante werden und als Verwaltungszentrum der gesamten Region dienen.
Trotzdem befanden sich die Kreuzfahrerstaaten in den Jahren, die auf die Ereignisse auf dem Blutfeld folgten, in einem quälenden Zustand der Instabilität. Dies war hauptsächlich auf unglückliche Umstände zurückzuführen, weniger auf gezielte muslimische Angriffe: Durch Gefangenschaft oder frühen Tod sahen sich die Lateiner zahlreicher Regenten beraubt, was zu Nachfolgezwisten und anhaltenden innenpolitischen Unruhen führte. König Balduin wurde bei einem muslimischen Angriff im April 1123 gefangen genommen und verbrachte 16 Monate in Gefangenschaft, bevor er gegen Zahlung eines Lösegelds wieder freigelassen wurde; in dieser Zeit konnte ein Staatsstreich in Palästina nur knapp verhindert werden. Bohemund II. kam im Jahr 1126 in der Levante an, um seine Herrschaft über Antiochia anzutreten, und wurde mit Balduins II. Tochter Alice vermählt, doch wurde der junge Fürst bei einem Überfall auf Kilikien nur vier Jahre später erschlagen; er hinterließ eine Tochter, Konstanze, als Erbin. Alice verbrachte die ersten Jahre nach 1130 damit, sich durch Intrigen die Macht im Fürstentum zu verschaffen. Mit dem [187] Tod Balduins II. nach schwerer Krankheit im Jahr 1131 und kurz danach dem seines Verbündeten und Nachfolgers als Graf von Edessa, Joscelin von Courtenay, traten die letzten Mitglieder der »alten Garde« von Outremer ab. In dieser Atmosphäre zunehmender Schwäche wurden neue Stärke und Rückhalt gebende Impulse immer wichtiger. 4
Die Ritterorden
Zwei neue Ordensgemeinschaften, die die Ideale der Ritterschaft mit denen des Mönchtums verbanden, spielten eine äußerst wichtige Rolle bei der Stabilisierung der fränkischen Levante. Um das Jahr 1119 verschrieb sich eine kleine Gruppe von Rittern unter der Führung des französischen Adligen Hugo von Payns der karitativen Aufgabe, die Pilger sicher ins Heilige Land zu geleiten. In der Praxis bedeutete das zunächst die Überwachung der Straße von Jaffa nach Jerusalem, aber Hugos kleine Gruppe genoss
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