Die Krieger 2 - Der Verrat der Königin
Mond. Er stand eine ganze Weile reglos da, ohne ein Wort zu sagen. Niss wartete still ab. »Warum erzählst du mir das alles?«, fragte er hart. »Das sind deine Träume, nicht meine!«
»Ich hatte das Bedürfnis, es dir zu sagen«, gestand Niss offen. »Ich dachte, dass du dich vielleicht auch daran erinnerst.«
»Da hast du dich getäuscht«, fuhr er sie an. »Und bitte sei so nett, es nicht zu erwähnen, wenn Amanon und die anderen dabei sind. Ich werde ohnehin schon schief angesehen, da kann ich solche Märchen wirklich nicht gebrauchen.« Sein schroffer Ton verletzte Niss so sehr, dass sie zunächst nicht antworten konnte. Dann nickte sie hastig und lief ans andere Ende des Schiffs.
Kurz darauf fegte ein neuer Schauer über das Deck, aber sie machte sich nicht die Mühe, ihre Kapuze aufzusetzen. Wenigstens kaschierte der Regen die ersten Tränen, die sie seit ihrer Heilung vergoss.
Nachdem sie die Stadt Lodacre erreicht hatten, verließen die Erben den Alt mit seinen heimtückischen Strudeln und Untiefen und segelten den Beremen hinauf, einen der beiden Flüsse, die Goran umschlossen. Auch hier herrschte reger Verkehr, aber das Wasser floss so ruhig dahin, dass sie besser vorankamen und den letzten Abschnitt ihrer Reise in weniger als zwei Dekanten zurücklegten.
Als sie sich der Hauptstadt des Großen Kaiserreichs näherten, versammelten sich alle an Deck. Obwohl die Wolken tief am Himmel hingen, waren die Umrisse der grün schimmernden Kuppeln und Prachtbauten auf den Hügeln des Stadtkerns schon von weither zu erkennen. Die gewaltigen Paläste schienen über eine ganze Heerschar von Häusern mit Spitzbogenfenstern zu herrschen. In ihrer Größe und Unnahbarkeit gaben sie den Reisenden das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen, und vor lauter Staunen über den majestätischen Anblick bemerkten die Erben kaum, wie die Zeit verging. Amanon zeigte ihnen den erhabenen Palast der Freiheit, der Mishra geweiht war und über den die anderen so viel gehört hatten, dass sie ihn auch ohne seine Erklärung erkannt hätten. Nicht umsonst galt der Tempel als eines der drei größten Gebäude, die je von Menschenhand errichtet worden waren. Der riesige Bär aus schwarzem Marmor, der über der Freitreppe thronte, war an sich schon ein Wunderwerk. Hatte die Göttin darin womöglich ihre geheimen Gemächer, so wie Züia im Lus'an lebte? Das war schwer vorstellbar, denn im Gegensatz zu den Mördern im roten Gewand, die im Verborgenen agierten, hießen die goronischen Priester in diesem Ort der Einkehr jeden Gläubigen willkommen, ganz nach dem Vorbild der Heiligen Stadt, die jeder Religion offenstand.
Amanon war nicht zum ersten Mal in der Stadt, aber die Befestigungsanlagen, die Goran ringsum schützten, waren ihm noch nie so drohend erschienen wie jetzt. Es musste daran liegen, dass sie als Verfolgte kamen … Wie in Leem führte der Kanal an einer hohen Mauer mit unzähligen Schießscharten und Zinnen entlang, hinter denen eine ganze Reihe von Katapulten stand. In der Ferne sahen sie bereits die Einfahrt zum Hafen, die mit einem mindestens zwanzig Schritte hohen zweiflügeligen Tor verschließbar war. Die Winde, die das Tor bewegte, musste gigantisch sein. Glücklicherweise hatte das Große Kaiserreich diese Schutzvorrichtung seit über einem Jahrhundert nicht mehr gebraucht, doch Amanon wusste, dass die Zahnräder regelmäßig gewartet wurden und tadellos funktionierten.
Noch bevor die Schiffe das Tor passierten, fuhren sie unter einer mächtigen Brücke hindurch, die vom Fluss aus nicht zugänglich war. Als sich die Gabiere genau unter dem Bogen befand, wies Amanon die Gefährten auf die Öffnungen im Stein hin, aus denen die Wachen kesselweise flüssiges Feuer auf mögliche Eindringlinge gießen konnten. Die Anlage war im dreizehnten Äon gebaut worden, um den Raubzügen arkischer und thalittischer Piraten Einhalt zu gebieten. Geglückt war den Stadtherren dieses Vorhaben nicht: Die Seeräuber waren einfach etwas weiter flussabwärts an Land gegangen und hatten an den Stadttoren angegriffen. Dennoch war die Brücke immer noch eine Schlüsselstelle für die Verteidigung der Stadt.
Als die
Rubikant
in den eigentlichen Hafen einlief, zogen graue Wolken auf, und kaum zurrten Amanon und Cael die Leinen fest, begann es in Strömen zu regnen. Die anderen blieben in der Kombüse, und so waren die beiden Cousins die Ersten, die die jahrhundertealten Kais von Goran betraten – bis ausgerechnet Keb ihnen seine Hilfe
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