Die Krieger 4 - Das Geheimnis der Pforte
dass es dann kein Zurück mehr gibt. Und ihre Zeit ist noch nicht gekommen.
Hin und wieder entgleitet ihr der Tiefe Traum. Dann entflieht sie ihm, wenn auch nur für kurze Zeit. Sie sieht sich neben Eryne auf einer Koje liegen. Ihr Großvater sitzt daneben auf einem Stuhl, reibt sich die Augen und scheint um Jahre gealtert. Sie würde gern bei ihm bleiben, aber der Tiefe Traum holt sie immer wieder zurück, zurück in das Licht, durch das sie die Gärten betritt. Ist sie wirklich dazu verdammt, ewig darin herumzuirren? Unentwegt ruft sie um Hilfe, sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie endlich jemand hört.
Damals, nachdem ihr Geist zum ersten Mal den Tod eines fremden Körpers durchlebt hatte, erwachte sie manchmal aus dem Tiefen Traum. Warum diesmal nicht?
Allmählich beginnt sie zu verstehen. Sobald sie die Gärten verlässt, zieht das Licht sie wieder an, so stark, dass sie ihm nicht widerstehen kann. Sie muss diesem Licht entfliehen, an diesen Gedanken klammert sie sich jedes Mal, wenn sie sich plötzlich in der Kajüte wiederfindet. Hier gehört sie hin. Für sie ist es noch nicht an der Zeit, in den Gärten zu bleiben. Doch das Licht holt sie ein ums andere Mal zurück, heraus aus Zeit und Raum, und lässt sie immer wieder im Tiefen Traum versinken.
Sie schreit vor Verzweiflung, ohnmächtiger Wut und Angst, sie will nicht an diesem Ort bleiben, an dem alles stillzustehen scheint. Ihre Gedanken sind jetzt nur noch eine rasche Abfolge von Bildern: Kajüte – Licht – Gärten. Sie wiederholen sich in einem endlosen Kreislauf, den nichts und niemand durchbrechen kann.
Nach unzähligen gescheiterten Fluchtversuchen ist sie kurz davor, aufzugeben und ihre Gefangenschaft hinzunehmen. Sie hat keine Kraft mehr und sehnt sich nur noch nach Ruhe. Sie überlegt, ob sie nicht doch zu den Kindern hinübergehen soll. Manchmal fühlt sie sich ihnen sehr nah. Wenn sie sich einem von ihnen anschließt, wird sie nie wieder Angst oder Verzweiflung empfinden.
Sie unternimmt noch einen letzten Versuch, den Gärten zu entfliehen, bevor sie den entscheidenden Schritt tut. Diesmal ist irgendetwas anders, und das gibt ihr neue Hoffnung. Irgendjemand hat versucht, sie zurückzuhalten, damit sie nicht wieder durch das Licht gezogen wird. Es hat sich angefühlt wie das Streicheln einer Hand. Eine Hand, die mit ihr gegen die Anziehungskraft der Gärten kämpfen will. Diesmal hat ihr die Hand nicht helfen können, aber sie wird es wieder versuchen.
An diesen Gedanken klammert sich Niss mit aller Kraft, während sie auf die nächste Gelegenheit zur Flucht wartet.
***
Nolan entdeckte das Schiff, das sich ihnen näherte, als Erster. Im Licht der untergehenden Sonne stand er am Bug der Feluke und plauderte mit Cael, Keb und Zejabel. Schon seit einer ganzen Weile fragte er sich, was es mit dem schwarzen Punkt am Horizont auf sich hatte. Als er irgendwann die Augen zusammenkniff und genauer hinsah, erkannte er ein Segel und schlug Alarm.
Amanon riss sich von seinen Büchern los und trat zu den anderen an die Reling, und auch Bowbaq verließ das Krankenbett seiner Enkelin, um dem Schiff entgegenzusehen. Es kam von Norden, also vermutlich nicht von der Insel Zuia, aber die Erben hatten mittlerweile so viele Feinde, dass sie sich trotzdem auf einen Kampf gefasst machten. Schließlich waren ihnen nicht nur die Züu auf den Fersen, sondern auch die Spitzel der Grauen Legion und die Anhänger der Dunklen Bruderschaft. Auch ein Piratenüberfall war denkbar, denn in den Gewässern rund um die Yerim-Inseln trieben bekanntermaßen Freibeuter ihr Unwesen.
Nachdem sie dem Schiff einen halben Dekant lang entgegengestarrt hatten, während die Sonne hinter ihnen im Meer versank, konnten die Erben aufatmen. Das Segel gehörte zu einer Galuppe, einem winzigen Kahn, wie man ihn eigentlich nicht auf hoher See erwartete. Die
Othenor II
hätte ihm mühelos davonfahren können, aber Amanon beschloss, es darauf ankommen zu lassen. An Bord einer Galuppe fanden nur wenige Menschen Platz, und der hohe Rumpf der
Othenor II
würde den Erben einen gewissen Schutz bieten, falls die Besatzung sie tatsächlich angriff.
Wenige Dezimen später befand sich das Boot in Rufweite. Die Passagiere, ein Mann, eine Frau und drei Kinder, hoben die Hand zum Gruß, und Nolan erwiderte die Geste. Da von der Familie keine Gefahr auszugehen schien, ergriffen die Erben das Tau, das der Mann ihnen zuwarf, und machten es an einem Poller fest. Kurz darauf dümpelten die beiden
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