Die Krieger 5 - Das Labyrinth der Götter
bedenke, dass es um meine eigene Schwester geht! Glaubst du im Ernst, ich würde nicht einen anderen Weg wählen, wenn es ihn gäbe?«
Amanon bewegte die Lippen, ohne ein Wort zu sagen, bevor er in haltloses Schluchzen ausbrach. Dann sah er Eryne mit tränenüberströmtem Gesicht an und schüttelte den Kopf. »Verzeih mir«, sagte er verzweifelt. »Verzeih mir …
Ich verleugne das Jal!«
Plötzlich wurde Nolan von einer sonderbaren Kraft erfüllt, als wäre er in einen Kreis aus Licht getreten. Erst überraschte ihn das Gefühl, doch als er den Grund erkannte, durchzuckte ihn Angst. Ohne es zu wollen, hatte er die Rolle des Erzfeinds übernommen!
Die Reihenfolge, in der die Erben Eryne zum Tod verurteilt hatten, war offenbar das Ereignis gewesen, das zwischen ihnen allen entschied. Nolan war der Letzte, der die Schicksalsworte sprechen würde, jene Worte, welche die Pforten des Jal öffnen und die dort gefangenen Seelen befreien würden. Allein durch die Macht seiner Worte würde er die Götter vernichten und den Beginn eines neuen Zeitalters einläuten. Er war der Auserwählte, den die Undinen angekündigt hatten, derjenige, der für alle Zeiten eine einzige Chance haben würde, Sombre zu besiegen. Und dafür musste er nichts weiter tun, als vier kleine Worte auszusprechen.
Oder sie nicht auszusprechen.
Nolan stand vor der schwersten Entscheidung seines Lebens und wurde von heftigen Zweifeln geplagt. Was, wenn Amanon Recht hatte? Was, wenn den Erben tatsächlich die Flucht gelang und sie Eryne gar nicht opfern mussten? Amanon hatte stets einen scharfen Verstand und Weitsicht bewiesen. Er konnte sich doch nicht so sehr irren! Vielleicht war Nolan zugleich der Erzfeind und der Verräter aus Usuls Prophezeiung. Wie konnte er wissen, was falsch und was richtig war?
Er ertrug den liebevollen Blick seiner Schwester kaum noch. Sie schien nur darauf zu warten, dass er den Mund öffnete, um ihr Leiden zu beenden und sie dem Nichts zu übergeben. Doch Nolan konnte sich nicht dazu durchringen. Die Bürde, die auf ihm lastete, drohte ihn zu erdrücken. Vielleicht war der richtige Moment noch nicht gekommen! Vielleicht konnten sie immer noch fliehen! Vielleicht …
Doch als sich der Dämon auf Niss und Zejabel stürzte, sprach er jene vier Wörter aus, die das Universum zum Erzittern brachten.
Es war, als würde ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Dann drang der Schmerz in ihre Muskeln, Organe und Knochen vor, aber das Ganze währte so kurz, dass sie kaum Zeit hatte, es richtig zu spüren. Gleich darauf begann die Reise.
Inmitten von unzähligen Lichtstrahlen sauste Eryne durch eine sternenklare Nacht. Es war ihr aus eigenem Willen nicht möglich, nach rechts oder links zu schwenken, schneller oder langsamer zu werden, höher zu steigen oder tiefer zu sinken. Mit rasender Geschwindigkeit flog sie dahin, ohne etwas dagegen tun zu können und ohne zu wissen, welchem Ziel sie zustrebte.
Dann ging ihr auf, dass sie selbst einer dieser endlos langen Lichtstrahlen war, deren Schweif sich nur sehr langsam in der Dunkelheit verlor. Hätten die Menschen das Phänomen sehen können, hätten sie wohl geglaubt, mitten in der Nacht gehe die Sonne auf. Das Spektakel erstreckte sich über die gesamte Oberfläche der bekannten Welt. Gleich darauf spürte Eryne, dass sie sich dem Ziel ihrer Reise näherte. Die Lichtstrahlen verschmolzen jetzt zu immer breiteren, gleißenden Strängen. Bald kam ein Gebirge in Sicht, und manche der Lichtbündel schossen bereits auf die hohen Gipfel zu.
Im Bruchteil einer Dezille erreichte Eryne die Höhenzüge des Rideau, die für Sterbliche unerreichbar waren. Sie flog über eine geschlossene Schneedecke hinweg und stürzte in ein sonnenbeschienenes Tal, das seine letzten Augenblicke erlebte.
Jetzt spürte Eryne die Verwirrung der anderen Lichter um sie herum. Es gab hier keine Kinder mehr, in deren Geist sie sich auflösen konnten, keine Götter, die sie in sich aufnahmen. Panik breitete sich aus. Aus schierer Verzweiflung wandten sich einige der Seelen dem Karu zu, wo sie jedoch ebenfalls niemanden mehr vorfanden, der ihnen Halt gab. Andere zuckten hin und her wie ein Fisch im Netz oder sausten im Zickzack umher. Wieder andere strömten auf die schwach leuchtende Pforte zu, weil sie hofften, durch sie doch noch in eine bessere Welt zu gelangen.
Eryne hatte das Gefühl, einst etwas über diese Pforte gewusst zu haben, aber sie entsann sich nicht mehr, was das gewesen war. Dieses Wissen
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