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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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wurde er zum Mittäter. Die drei sind in den Kahn gefahren und sollten die »Gefängnisstatuten« auswendig lernen, aber sie schüttelten nur den Kopf, sie könnten nicht lesen. Da zeigte der Anführer der Gefangenen einen Finger und sagte in lehrerhaftem Ton: Das ist eine Eins, die Eins von eins, zwei, drei, vier, das kennt ihr doch, oder?
    Sun und Li sagten, nein, das würden sie nicht kennen.
    Der Zellenchef sagte: Von jetzt ab wisst ihr es, das nennt man eins. Anschließend fragte er Luo Guozi: Und du?
    Luo antwortete: Ich kenne das noch viel weniger, ich bin Analphabet.
    Dem Zellenchef kam die Galle hoch und er fluchte los: Die Hundesöhne kennen nicht mal das Schriftzeichen für eins, ein einfacher Querstrich, und sie kennen das nicht! Dann rief er gut ein Dutzend Leute zu sich, die bauten sich um die drei herum auf und schlugen eine Weile auf sie ein, mit Knüppeln, Gummischläuchen, Militärgürteln, sogar mit Waschbrettern, alles kam zum Einsatz. Die drei wurden in eine Ecke gedrängt, dort wehrten sie sich eine Weile, dann gingen sie zu Boden.
    LIAO YIWU:
    Hehe, und das soll ein Witz sein?
    LI HONGQI:
    So was in der Art.
    LIAO YIWU:
    Wenn ich Sie mir so anschaue, sind Sie noch in einer ganz guten Verfassung.
    LI HONGQI:
    Ich bin Sicherheitspersonal in einer Tanz- und Karaokebar, ich habe ein festes Einkommen, also geht es. Letztes Jahr, kurz nach meiner Entlassung, habe ich mich, wie ich mich erinnere, nicht über die Straße getraut, ich hatte Angst, unter eines der vielen Autos zu kommen. Jetzt habe ich mich mehr schlecht als recht angepasst und kann noch eine Weile auf unserer lieben schönen Welt weitermachen. Aber viel wichtiger ist, dass unsereins noch lebt! Wir leben wie die Schweine, aber wir leben! Aber was uns von den Schweinen unterscheidet, wir haben ein Gedächtnis!

Wang Lianhui,
Straßenkämpfer
    Um den Neujahrstag 2007 herum fahre ich nach Beijing, um nach »Rowdys« vom 4 . Juni zu suchen. Am Nachmittag des 2 . Januar zwänge ich mich in Begleitung von Wu Wenjian am Qianmen-Tor in den Bus Nr. 729 , in dem wir uns über zwei Stunden herumquälen, bis wir an einem alten Palast weit draußen im Bezirk Daxing ankommen. Ich habe mir sagen lassen, dass das die Sommerresidenz von ein paar Qing-Kaisern und einmal sehr glanzvoll gewesen ist.
    Heute ist es eine Müllkippe. Himmel und Erde sind nieselgrau, durch eine dunkle Wolkennaht ab und zu ein Sonnenstrahl, wie eine frisch verschorfte Wunde, aus der unsichtbare schmutzige Hände Blut kratzen; anschließend bläst uns ein kalter Wind ins Gesicht, schaufelt ein paar Plastiktüten hoch, die auf dem Boden kleben; und einen Wimpernschlag später folgt ein kalter Regen. Uns schaudert, wir trödeln herum, bis es ganz dunkel ist, schließlich lassen wir uns in einem heruntergekommenen Restaurant, der »Feuertopfburg zum dummen Jungen«, nieder.
    Wir sind mit den Brüdern Sun verabredet, die bis spät in die Nacht nicht auftauchen; ein Glück, dass der vertrödelte Wang Lianhui hereinschneit, er ist ganz apathisch. Am Anfang, wenn ich ihn etwas frage, winkt er nur ab und sagt: Nein, aber als er ein paar Gläser im Bauch hat, akzeptiert er meine Fragen doch.
    Das ist eine seltene, marathonartige Erfahrung, fast von Mittag bis Mitternacht haben wir auf die Sun-Brüder gewartet, und am Ende komme ich zu einem überraschenden Interview mit Wang Lianhui. Ein endloser Albtraum. Er seufzt immer wieder, all das wieder zum Leben zu erwecken, was man so gern vergessen würde. Aber man schafft es ja doch nicht.
    Wang Lianhui ist 1967 geboren, im zweiten Jahr nach Ausbruch der Kulturrevolution, der Personenkult der Chinesen um Mao Zedong erreichte seinen Höhepunkt, viele Intellektuelle sind totgeschlagen worden, aber er hat unter den ohrenbetäubenden Lobgesängen auf Mao das Licht der Welt erblickt.

    WANG LIANHUI:
    Ich bin ein alter Beijinger, meine Familie wohnt im Dorf Jixian der Alten Palast-Gemeinde im Bezirk Daxing, ganz in der Nähe vom Nanyuan-Flughafen. 1989 war ich zweiundzwanzig und im Elektrizitätswerk unseres Ortes als Leiharbeiter tätig. Was habe ich von Politik verstanden? Ich hatte auch kein Interesse an Krawall.
    LIAO YIWU:
    Aber …
    WANG LIANHUI:
    Aber ich bin voll da hineingeraten, verdientes Pech. Am Abend des 3 . Juni war ich auf dem Weg von meiner Freundin nach Hause, bin in der Nähe von Jixian vorbeigekommen, habe gesehen, wie da ein Strom von Menschen herausbricht und die Hauptstraße verstopft; ich musste vom Rad springen und bin

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