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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Abend des 3 . Juni haben sie sich gestritten. Bis abends so gegen zehn die Schüsse herüberdrangen, klar und deutlich, da haben alle für eine Weile die Klappe gehalten.
    Tagsüber war ich am Xidan, dann rief die Kommandozentrale an und gab Anweisung, ich solle mit ein paar Leuten am Xisi die Lage sondieren. Eigentlich waren die Kolonnen der Ausnahmetruppen von den Massen aufgehalten worden, alle drängten heran, verwickelten die Soldaten in Diskussionen, ermutigten sie, sich zurückzuziehen, ermutigten sie, die Mündungen abzuwenden in Richtung auf die diktatorische Regierung. Die Sonne stand sengend am Himmel, die gepanzerten Fahrzeuge, in die die Soldaten sich verkrochen hatten, wurden unerträglich heiß. Die Soldaten waren klatschnass, einige ließen die Köpfe hängen, die hatten einen Sonnenstich. Daraufhin haben die Leute spontan Wasser und Eis am Stiel herangeschafft und Obst und Brot. Die Soldaten waren so bewegt davon, dass sie zu weinen anfingen und erzählten, bevor sie ausgerückt seien, hätten sie keine Ahnung von der wirklichen Lage gehabt. Und dann sagten sie noch, sie seien doch Söhne und Brüder des Volkes, sie würden auf keinen Fall auf Patrioten das Feuer eröffnen.
    LIAO YIWU:
    Und wie ging das weiter?
    LI HAI:
    Sie haben nicht nur geschossen, sie haben auch viel zu viele einfach totgeschlagen. Aber ich habe wirklich eine Menge Soldaten gesehen, die ihre Fahrzeuge im Stich ließen, ihre Gewehre und ihre Munition wegwarfen und abgehauen sind. Ich vermute, sie sind später von geheimen Militärgerichten abgeurteilt worden. In der Nacht des Massakers bin ich an vielen Straßenkreuzungen vorbeigelaufen, die Kugeln zischten um mich herum, überall gingen Menschen zu Boden, überall wurde Menschen geholfen, wer gefallen war, der wurde gestützt und im Kugelhagel in ein Krankenhaus geschafft. Ich bin nacheinander im Fuxing- und im Kinderkrankenhaus gewesen, ich habe mit eigenen Augen Dutzende von blutüberströmten Leichen gesehen. Das waren Szenen wie in der Hölle, vor den Mauern die Gewehrsalven, innerhalb der Mauern das Rein und Raus der Ärzte und Krankenschwestern, die haben sich schier überschlagen. Die Verwundeten stöhnten, und fortlaufend kamen neue herein. In der zweiten Nachthälfte war der Tiananmen bereits von den Ausnahmetruppen eingenommen. Ich konnte nichts anderes tun, als zur Beijing Uni zurück und alle möglichen Schreckensnachrichten weitergeben. Ich war von Trauer überwältigt, übermüdet, überreizt, ich habe im Wohnheim geredet und geredet, habe kerzengerade dagesessen, als ich auf einmal zu schnarchen anfing. Meine Hosenbeine waren voller Blut, keine Ahnung, von welcher Straßenecke das kam.
    Am frühen Morgen des 4 . Juni fand auf dem Campus der Beijing Uni eine spontane Trauerkundgebung für die Opfer statt, Chang Jing und ich übernahmen das Aufhängen der Trauersprüche. Da bremst auf einmal ein gepanzerter Wagen vor dem Eingang zum Campus, zwei Soldaten springen heraus, fragen lachend nach dem Weg, ganz, als gelte der alte Spruch noch immer, dass die »Armee sich im Volk bewegt wie ein Fisch im Wasser«. Wir waren alle extrem geladen, gut ein paar hundert Studenten stürzten heran, umringten die beiden und schlugen zu. Augenscheinlich ging es um Leben und Tod, Chang Jing und ich ließen keinen Widerspruch gelten, drängten uns durch die Leute, haben die beiden von der Erde hochgezogen und sie aus der Gefahrenzone geholt.
    LIAO YIWU:
    Die blinde Wut der Masse.
    LI HAI:
    Richtig. Damals konnte man bei der geringsten Unachtsamkeit die Kontrolle verlieren, was noch eine größere Unterdrückung zur Folge gehabt hätte. In diesen Tagen hat man in den Wohnheimen der Beijing Uni überall Geister weinen hören; natürlich keine wirklichen Geister, es war das langgezogene Heulen der Leute. Alle waren am Boden zerstört. Und man konnte auch nichts mehr tun. Also dachte ich, ich gehe mal nach Hause.
    LIAO YIWU:
    Wussten Ihre Eltern nicht, wo Sie geblieben waren?
    LI HAI:
    Richtig. Ich wohne bei der Sanyuan-Brücke, die Straßen waren dicht, an jeder Kreuzung und Einmündung stand die Ausnahmetruppe. Also bin ich über abgelegene kleine Gassen gelaufen, ein Umweg von sechs, sieben Stunden, bis ich zu Hause war. Ich schloss die Tür hinter mir fest zu und steckte den Kopf unter die Decke und heulte eine ganze Weile. Dann bin ich von meinen Leute weg, habe einfach mein Zeug gepackt und mich für die Flucht fertiggemacht.
    Zu meiner Überraschung habe ich es ohne Probleme bis

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