Die Kugel und das Opium
Prügeleien abzureagieren. Da war ein Bauernarbeiter, also ein Wanderarbeiter, der war beim vorgeschriebenen Hofgang nicht schnell genug auf die Toilette gekommen, also hat er neben der Toilette aus einem rostigen Rohr Wasser geschöpft und getrunken, mit dem Resultat, dass er Durchfall bekam. Tagelang hat er sich in die Hosen gemacht und die Luft in der Zelle verpestet, was uns allen mehr als auf den Zeiger ging. Er wurde brutal zusammengeschlagen und ständig gezwungen, kaltes Wasser zu trinken. Davon hat er dann Malaria bekommen, ist nur noch geschwankt und hatte ständig Schüttelfrost, der machte nicht mehr lange, das konnte man sehen, bis ein Wärter das entdeckte und ein paar Leute aufforderte, »ihn an der Sonne gut zu trocknen«.
LIAO YIWU:
Die Sonne als Allheilmittel?
LI HAI:
Für Kriechtiere wie uns, die in dunklen, feuchten Winkeln herumkrauchten, war die Sonne allerdings ein Allheilmittel. Ein Glück, dass ich nur zweihundertneun Tage da drin war und dann ganz unerwartet entlassen wurde.
LIAO YIWU:
Wie lautete die Anklage?
LI HAI:
Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich habe ein Geständnis geschrieben, eine Bürgschaftsurkunde, damit war der Fall erledigt.
LIAO YIWU:
Das war, was sie eine »erzieherische Entlassung« nennen. Meine »Komplizen« sind nach gut zwei Jahren ebenfalls aus unerfindlichen Gründen auf einmal freigekommen, genau wie Sie.
LI HAI:
Doch als ich das zweite Mal reinkam, bin ich nicht mehr so billig davongekomen.
LIAO YIWU:
Das zweite Mal? Wann war das?
LI HAI:
Mai 1995 . War erst vier Jahre »auf freiem Fuß«, da haben sie mir wieder etwas angehängt.
LIAO YIWU:
Man entgeht dem Verhängnis nicht.
LI HAI:
Ich war unvorsichtig genug, auf die schwarze Liste der Öffentlichen Sicherheit zu kommen, und die Beijing Uni hat mich hinausgeworfen. Studieren ging nicht, Arbeit habe ich auch keine gefunden, also bin ich zu Hause geblieben – was sollte ich machen? – und habe meinen Eltern auf der Tasche gelegen. Es muss 1992 gewesen sein, da habe ich Liu Qing getroffen, von der »Human Rights in China« in New York, für den habe ich die Auslandsspenden an die Angehörigen der Opfer des 4 . Juni im ganzen Land verteilt. Ich wusste, dass ich mich damit in Gefahr begab, aber ich wurde meinen 4 . Juni-Komplex nicht los. Dann sind die zuständigen Behörden mir auf die Schliche gekommen, sie haben mich zu einem Plauderstündchen beim Tee aufgesucht. Ich habe ihnen ganz cool ihre Fragen beantwortet; es lief nicht schlecht, ein bisschen Geld weiterzugeben, das half ja auch dem Staat, die Gemüter zu beruhigen.
In den paar Jahren war ich in Dutzenden von Städten gewesen, habe an über sechshundert Angehörige von Opfern des 4 . Juni gut hunderttausend amerikanische Dollar verteilt. Auf den Einzelnen gesehen war das nicht viel, zum Beispiel zwei-, drei-, vierhundert, manchmal auch sechs- oder siebenhundert. Ich war zu viel unterwegs, es ging allmählich über meine Kräfte, mir ist in den Überlandbussen des Öfteren schwindlig geworden, und ich musste mich übergeben, manchmal bin ich auch ohnmächtig geworden.
LIAO YIWU:
Alle Achtung!
LI HAI:
Was dann kam, war wegen einer Frau. Irgendwann hat sie in meiner Gegenwart mit Wang Dan telefoniert, hat groß über den 4 . Juni salbadert. Seither waren wir so etwas wie Bekannte. Wir haben uns ungefähr zwei Jahre lang hin und wieder getroffen, einmal hat sie sich ganz überraschend mit mir für eine Tour nach Guangzhou verabredet, von wegen, einer von den großen Bossen werde sie dort empfangen, Essen und Unterkunft alles frei. Ich fand das ein wenig seltsam und habe höflich abgelehnt. Doch schon nach ein paar Tagen war sie wieder am Telefon, behauptete, die Polizei sei ihr auf den Fersen, sie müsse sich bei mir verstecken, um ihnen zu entgehen.
Ich sagte, ich sei selbst ein Lehmbuddha auf dem Weg durch den Fluss und könne mich kaum selber schützen.
Sie sagte, im Maul des Tigers sei es am gefährlichsten und deshalb auch am sichersten.
Ich brachte nervös alles Mögliche vor. Sie sagte, was soll das alles? Ich werde sofort zu dir kommen.
Ich sagte, am Nachmittag würde ich einen alten buddhistischen Laienbruder besuchen.
Sie sagte, ich komme mit.
Ich sagte, du glaubst nicht an Buddha, das würde dir nichts bringen.
Sie sagte, woher willst du wissen, dass ich nicht an Buddha glaube?
Spontan fiel mir dazu nichts ein, also sagte ich zu.
Nachmittags um drei haben wir uns am Trommelturm getroffen, sie ist mit zu
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