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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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regelrecht zu Tode geärgert, und dann nimmt er auch noch an der Trauerkundgebung teil und lobt ihn in den höchsten Tönen, dieser falsche Zwerg!
    LIAO YIWU:
    Es ist aber auch ein grausamer Zwerg. Mao Zedong hat mit ihm gespielt und er wiederum spielt nach dem gleichen Muster mit anderen.
    LI HAI:
    Deshalb sind die Menschen auch spontan aufgestanden und haben um Hu Yaobang getrauert. Am 17 . April gab es auf den Straßen überall Demonstrationen der verschiedenen Hochschulen. Die Beijing Uni war da eher spät dran, es war schon Mitternacht, als wir uns im Wohnheim ausgezogen und schlafen gelegt haben; aber auf einmal drang innen vom Campus her Geheul. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dieses scharfe Wolfsgeheul aus allen Gebäuden kam, aus jedem Winkel.
    LIAO YIWU:
    Waren da wirkliche Wölfe?
    LI HAI:
    Wölfe in Menschengestalt. Viele hatten Brillen auf und weiße Bänder um die Stirn, sie stießen die Fenster auf, formten mit den Händen einen Trichter und stießen langgezogene Töne aus, ao-ao-ao. Dann hallte es aus dem Gebäude gegenüber zurück: ao-ao-ao. Dann brach es aus allen Gebäuden ringsum los, die Menschen strömten heraus und versammelten sich am Dreieck. Es dauerte nicht lange, und es waren dort beunruhigend viele Leute versammelt. Die einen kamen heraus und dirigierten das Ganze, die anderen hängten ein Transparent aus dem Gebäude 28 , auf dem stand: »Die Seele Chinas«. Mit diesem »Die Seele Chinas« bahnten wir uns den Weg, verließen den Campus und überschwemmten die Straßen und riefen unterwegs abwechselnd laute Parolen. Nach und nach haben sich immer mehr dem Demonstrationszug angeschlossen, und morgens um kurz nach vier kamen wir zum Tiananmen.
    LIAO YIWU:
    Wie beim Ausbruch der Kulturrevolution, als ein paar Millionen Rotgardisten von überallher auch morgens um kurz nach vier zum Tiananmen kamen, um von Mao Zedong empfangen zu werden.
    LI HAI:
    Das kann man nicht vergleichen. Damals, das war Personenkult, diesmal, das war für die Demokratie. Die gespenstische Kaiserstadt war sofort herabgesunken zu einem Lichterviertel, in dem die Gemüter der Massen hochkochten. Irgendein Kongfu-Meister, keine Ahnung, woher der kam, nahm das Transparent, übersprang aus dem Stand den Sockel des Mahnmals für die Helden des Volkes, und im Nu hingen die drei Zeichen »Die Seele Chinas« hoch über den Abertausenden von Menschen. Anschließend hielt Wang Dan eine Open-Air-Versammlung ab, an der gut tausend Leute teilnahmen und bei der man den Inhalt der »Petition« diskutierte, die man dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei überreichen wollte. Insgesamt waren es elf Paragraphen, die nachher auf sieben gekürzt wurden. Ich erinnere mich heute noch an Punkte wie »Aufhebung der Pressezensur« und »Weg mit der Korruption«. Anschließend sind wir in einer Kolonne zum Ostportal der Großen Halle des Volkes, haben uns dort einen Tag und eine Nacht lang hingesetzt, aber es ist niemand herausgekommen und hat uns empfangen.
    LIAO YIWU:
    Waren Sie enttäuscht?
    LI HAI:
    In einer Diktatur gibt es außer der Unterdrückung keine Mechanismen für den Dialog mit dem Volk. Wir schauten zu Tode gelangweilt vom Fuß der Treppe da hinauf, ohne etwas zu essen und ohne zu schlafen. Nachts war es kalt, tagsüber heiß, wir hatten nichts als unsere patriotische Begeisterung, an der wir eisern festhielten. Nach und nach versammelte sich die Stadtbevölkerung um uns herum, es wurden immer mehr, wir waren von mehreren Kreisen umgeben. Die Einwohner von Beijing haben das höchste politische Bewusstsein in China, deshalb gab es nicht wenige, die uns uneigennützig mit Brot, Obst und Eis am Stiel versorgt haben. Dann waren da noch die Streikposten, die sich vor Ort organisiert hatten, Kreise zogen und die Ordnung aufrechterhielten.
    Das Ganze hatte enorme Ausmaße. Die offizielle Seite hat das nicht ausgehalten und am Ende in der Abendstunde am Amtsgebäude einen kleinen Spalt geöffnet und die »Petition« entgegengenommen. Wir waren wie von einer schweren Bürde erlöst, der Himmel war trügerisch hell, die Klassen und die Lehrer gingen zurück in ihre Schulen und Universitäten. Unerwarteterweise erhob sich, kaum dass eine Woge abgeklungen war, die nächste. Am Eingang der Nachrichtenagentur Neues China im Regierungsbezirk Zhongnanhai hielten Studenten ebenfalls ein schweigendes Sit-in ab. Dort sind wir als Unterstützung hin, sind aber einer Vorhut bewaffneter Polizei in die Arme gelaufen. Die Studenten

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