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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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»Edelstahlratte«
[24] ,
ist die Jüngste, die nichtsdestotrotz im Internet den größten Widerhall findet. Hinter ihr ein hinter seiner Brille versteckter Mann, der aussieht wie eine verschreckte Schildkröte, die bei geringster Gefahr den Kopf einzieht.
    Die »Ratte« kichert herum, dreht sich um und zerrt die Schildkröte zu mir. Das ist dein Gesprächspartner, sagt sie.
    Li Hai und ich gehen durch die Leute in ein anderes Zimmer. Ich schließe die Tür. Li Hai sagt, am besten würde ich abschließen. Also schließe ich ab. Wir sitzen einander, von einem Tisch getrennt, gegenüber. Die Schläfen Li Hais sind weiß, er ist schon zweiundfünfzig und noch immer mutterseelenallein.
    Ich sage, ich sei auch erst vor kurzem geschieden worden, wir seien also beide zwei alte Knochen solo.
    Zwei alte Knochen solo? Was heißt das? Li Hai versteht das nicht, seltsam. Er ist so in seine eigene Welt versponnen, dass, wenn von außen ein unbekanntes Flugobjekt in sie eindringt, er ganz durcheinanderkommt. Er wiederholt es noch einmal, was das denn heißen solle, zwei alte Knochen solo? Dabei spricht er immer langsamer und redet am Ende wie im Traum.
    Die Wände hier sind sehr dick. Der Lärm von draußen kommt einem sehr weit weg vor. Ich stelle sacht das Tonbandgerät unter den Tisch. Li Hai sagt leise, mein Gedächtnis war eigentlich immer sehr gut, aber in letzter Zeit stimmt etwas nicht, ich kann mich an viele Menschen und Ereignisse nicht mehr erinnern. Wenn ich jemanden treffe, weiß ich genau, dass ich das Gesicht kenne, aber ich kann den Namen nicht sagen. Ich verirre mich oft vor der eigenen Haustür. Mitten im Gespräch habe ich auf einmal das Gefühl, mein Gegenüber ist ganz weit weg, als komme er aus dem Weltall.
    Was ist Ihnen am nächsten?
    Der 4 . Juni. Das ist gestern. Das ist gestern, für immer.

    LIAO YIWU:
    Ihrer nachdenklichen Haltung nach zu urteilen sind sie Philosoph.
    LI HAI:
    Das ist keine nachdenkliche Haltung, sondern die Haltung von jemandem, der an gar nichts denkt. Ich bin schon eine ganze Weile wieder draußen, habe aber immer noch Angst, zum Beispiel über eine Straße zu gehen oder in einem Tante-Emma-Laden etwas einzukaufen oder mit den Nachbarn zu sprechen, ständig schaue ich mich in alle Himmelsrichtungen um, als hätte ich etwas zu verbergen. Einmal hat ein Freund mich von hinten angerufen: »Li Hai«, seine Stimme war ein bisschen laut, ich bin so erschrocken, dass ich die Beine in die Hand genommen habe und weggelaufen bin.
    LIAO YIWU:
    Aber Sie sind kein Hasenfuß. Das weiß ich.
    LI HAI:
    Ich bin kein Hasenfuß, aber ich muss mich an meine Umwelt anpassen.
    LIAO YIWU:
    Immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe.
    LI HAI:
    Gut. Gut.
    LIAO YIWU:
    Stammen Sie aus Beijing?
    LI HAI:
    Geboren und aufgewachsen bin ich in Beijing, meine Familie stand nicht schlecht da, als ich klein war, ich habe auch gerne gelernt. Nach dem Ende der Kulturrevolution habe ich die Aufnahmeprüfung an die Universität Nanking gemacht. Nach meinem Abschluss habe ich sechs Jahre unterrichtet, 1988 habe ich die Aufnahmeprüfung an das Philosophische Seminar der Universität Beijing gemacht, 1989 bin ich an die Studentenbewegung geraten und darin verwickelt worden.
    LIAO YIWU:
    Das ganze chinesische Volk ist darin verwickelt gewesen.
    LI HAI:
    Beijing ist das Zentrum des Landes, aber das Dreieck um die Beijing Uni war in diesem Zentrum das Auge des Orkans. Die Aura der Redefreiheit hat jeden, der dort vorbeikam, auf ganz seltsame Weise erregt. Als Hu Yaobang starb, waren die Wände in dem Dreieck voller Spruchpaare für den Verstorbenen, Trauertexte, Trauergedichte und Bilder des Verstorbenen. Viele haben sich dort zusammengefunden, sie haben sich vor dem Haus von Yaobang angestellt, um seinem Sarg nahe zu sein, Kränze zu schicken und sich vor seinem Bild dreimal zu verneigen. Ich bin auch dort gewesen und konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu weinen.
    LIAO YIWU:
    Hatten Sie Kontakt zu Wang Dan?
    LI HAI:
    Wang Dan war Anfang zwanzig, er leitete einen demokratischen Salon, an dem sehr viele teilgenommen haben. Aber ich habe mich ganz in der Philosophie vergraben, ich war an all dem nicht sonderlich interessiert. Kurz, der Tod von Hu Yaobang hat mich wachgerüttelt, er war das Symbol der Reformen; er war für die Chinesen hier, was Gorbatschow für die Sowjetunion war. Aber Deng Xiaoping nutzte seine Macht für seine persönlichen Ziele, hat ihn einmal erhoben und ihn dann wieder niedergedrückt, er hat ihn

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