Die Kugel und das Opium

haben sich natürlich nicht gefügt, also gab es ein beiderseitiges Gezerre und Geschiebe, der bewaffneten Polizei lief die Galle über, und sie verteilten Tritte und Hiebe. Ich schrie »Nicht schlagen!«, mit dem Resultat, dass eine Faust geflogen kam und mein Gesicht sofort geschwollen war wie ein Panda. Andere Kommilitonen hat es noch schlimmer erwischt, deren Kopf war voller Blut, wieder andere wurden in die Hoden getreten, die krümmten sich vor Schmerzen.
    LIAO YIWU:
    Das war dann wohl der berühmte »Angriff auf den Eingang der Nachrichtenagentur Neues China«?
    LI HAI:
    Richtig, richtig. Wir zogen uns zurück. Aber auf dem Campus hörten wir dann die offiziellen Nachrichten, in denen es hieß, die Polizei hätte niemanden geschlagen, sondern geduldig ermahnt, die Leute sollten friedlich auseinandergehen. Ein Scheiß. Mein Gesicht war Beweis genug. Das war ein Wendepunkt. Abertausende von Studenten sind zum Tiananmen gelaufen zu einer schweigenden Sit-in-Demonstration. Am 21 . April hat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei vor der Großen Halle des Volkes eine Trauerfeier für Hu Yaobang abgehalten, während die Studenten ihrerseits erneut eine Delegation von drei Leuten wie Guo Haifeng zur Übergabe einer »Petition« gewählt haben. Da sie keine Antwort bekamen, sind sie auf der Treppe zur Großen Halle des Volkes niedergekniet. Die Liveübertragung dieser Szene durch das Zentralfernsehen hat das ganze Land erschüttert.
    LIAO YIWU:
    Warum sind sie niedergekniet? War das Aktionskunst?
    LI HAI:
    Die Kommunistische Partei hat intern eine Trauerfeier veranstaltet, an der das Volk nicht teilnehmen konnte, selbst das kläglichste bisschen Volksmeinung haben sie missachtet, da konnten sie nichts anderes machen, als sich hinzuknien. Wider alle Erwartung verlor die Kommunistische Partei das Gesicht, sie verlor das Gesicht wie der letzte Gauner, die haben sich schwarz geärgert. Daraufhin erschien der Leitartikel der
Renmin ribao
vom 26 . April: »Die Fahne hoch gegen die Unruhestifter« und hat auf dumme Weise Öl ins Feuer gegossen, was dann direkt zu den Demonstrationen vom 27 . April geführt hat. Die Beijinger Gassen waren wie ausgestorben, wie es heißt, waren Millionen auf den Straßen.
    LIAO YIWU:
    Der Schneeballeffekt.
    LI HAI:
    Dann kamen die Demonstrationen vom 1 . und 4 . Mai. Wenn die Polizei über hunderttausend bewaffnete Kräfte in Bewegung setzte, setzten sich in den Bezirken von Beijing Millionen in Bewegung, auf alles kam eine entsprechende Antwort, es ging darum, wer am meisten Leute auf die Beine brachte. Das war unser Fasching, die Diktatur war vom Ozean der Volksmassen gefangen.
    LIAO YIWU:
    Damals haben sie vollkommen die Kontrolle verloren, ich habe mir sagen lassen, dass in zig Städten zig Millionen Menschen auf der Straße waren. Sie wollten Reformen, sie wollten Demokratie und Menschenrechte.
    LI HAI:
    Shen Tong, ein Doktorand der Abteilung Biologie, hat mich in das Organisationskomitee der Beijing Uni des Unabhängigen Zusammenschlusses der Hochschulen geholt. Yang Tao hatte den Vorsitz, Chang Jing war stellvertretende Vorsitzende, ich war zuständig für die Außenkontakte, wie zum Beispiel den Empfang von Besuchern und die Nachrichtenübermittlung. Ich habe noch nie im Leben so viel zu tun gehabt, ich habe jeden Tag nur zwei, drei Stunden geschlafen, um Essen konnte ich mich noch weniger kümmern. Oft, wenn ich westlichen Journalisten ein Interview gegeben habe, ist mir auf einmal vor Augen alles verschwommen, vermutlich hatte ich zu wenig gegessen, und der Blutzuckerspiegel war zu niedrig. Am Vorabend des Besuchs des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow haben wir alle noch am Fuß der Gedächtnissäule diskutiert, ob wir zeitweilig die Demonstrationen unterbrechen und von unseren Stellungen abziehen sollten, das würde einen besseren Eindruck machen für unser Land. Da sind noch gut ein Dutzend Intellektuelle vorbeigekommen, die uns ermahnten, den Hungerstreik aufzugeben. Und dann war da auch noch der Rockstar Cui Jian, Hou Dejian und Liu Xiaobo haben sich eingemischt. Die Demokratische Universität auf dem Tiananmen wurde eröffnet, die innere Führung der Studenten spaltete sich, es kam zu Handgreiflichkeiten und so weiter und so fort. Ich hatte keine Ahnung, was alles an einem Tag passieren würde, niemand konnte das voraussehen, niemand konnte einem sagen, wie es morgen aussehen würde, welcher Schritt der nächste sein sollte. Alles war ein einziges Gezanke, bis zum