Die Kugel und das Opium
mucksmäuschenstill. Dann wurde verkündet, die Verhandlung werde für eine Pause unterbrochen. Nach weiteren zweihundert Tagen in Haft wurde mir am 12 . Dezember 1996 die Urteilsverkündung direkt ins Untersuchungsgefängnis geschickt. Man hat sie mir im Korridor von vorne bis hinten vorgelesen, verurteilt wurde ich wegen »Verrats von Staatsgeheimnissen«, zu neun Jahren. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, weigerte mich, das zu unterschreiben, sondern murmelte, worauf stützt sich das? Wo die Zeugenaussagen seien, wo die Beweise und wo das Geständnis? Der Richter knirschte mit den Zähnen, auch wenn ich nicht gestanden hätte, müsse ich die Strafe tragen.
Als es dann mit dem Frühling wärmer wurde und alles blühte, wurde ich ins Gefängnis Nr. 1 in Beijing gebracht. Anschließend wurde ich verlegt in das Gefängnis von Liangxiang in einem Bergkreis, dort waren fast zweitausend Gefangene. Ich wurde unmenschlich misshandelt, mit Hanfseilen gefesselt, mit Elektroknüppeln gebrandmarkt, aber sie haben mir das Geheimnis, das ich in mir trug, nicht herausgepresst.
LIAO YIWU:
Haben Sie keine Strafmilderung bekommen?
LI HAI:
Nein. Ich bin am 30 . Mai 2004 entlassen worden, ich war neun Jahre eingesperrt, dreitausendzweihundertachtundachtzig Tage. Als ich wieder zu Hause war, wurde ich, weil der Jahrestag des 4 . Juni vor der Tür stand, für neun Tage unter Arrest gestellt, so dass ich insgesamt jetzt dreitausendzweihundertsiebenundneunzig Tage verloren habe.
LIAO YIWU:
Sie erinnern sich so genau?
LI HAI:
Ich habe jeden einzelnen Tag davon ausgehalten.
LIAO YIWU:
Nicht schlecht.
LI HAI:
Was heißt da nicht schlecht? Bluthochdruck, Bindehautentzündung, Gallensteine, das habe ich von der grauenhaften Schufterei tagaus, tagein zurückbehalten. Auch meine mentalen Fähigkeiten haben gelitten, ich erinnere mich nur an Zahlen, ich erinnere mich nicht an den Inhalt, der mit diesen Zahlen in Verbindung steht. Wenn man lange Zeit nicht spricht, dann verliert man auch die Zusammenhänge.
LIAO YIWU:
Aber Sie erzählen sehr gut!
LI HAI:
Der Knast macht einen zu Müll. In diesen neun Jahren hat sich die Gesellschaft von Grund auf verändert, wenn ich auf die Straße gehe, weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Zu Hause ist es deprimierend, und wenn ich mit Leuten zusammen bin, ist es noch schlimmer. Der Kopf macht nicht mit, und wenn ich es mit Gewalt versuche, bekomme ich Kopfschmerzen. Wenn ich runtergehe, um in einem Laden Brot zu kaufen, stehe ich mit offenem Mund vor dem Tresen und habe vergessen, was ich wollte.
LIAO YIWU:
Immer mit der Ruhe, das gibt sich, viel Bewegung, viele Begegnungen mit jungen Freunden, wie hier mit Wu Wenjian und mit unserer im Kopf so lebendigen »Edelstahl-Ratte«.
LI HAI:
Aber ich habe ein starkes Interesse für den Buddhismus. Ich denke, ich werde in ein paar Tagen Geld genug zusammen haben, um zum Guiyang-Tempel bei Chenzhou in Hunan zu fahren, mal sehen, ob ich durch die Tür zur Leere gehen kann, alles andere ergibt sich von selbst.
Liu Shui,
arbeitsloser Schriftsteller
Irgendwann 2006 bekomme ich in einer finsteren Bar in Lijiang, Provinz Yunnan, einen Anruf. Gut möglich, dass ich betrunken bin, auch möglich, dass da zu viel Krach ist, ich bekomme nicht genau mit, um was es in dem Anruf geht. Doch am Nachmittag des darauffolgenden Tages ruft der Kerl noch einmal an. Ich heiße Liu Shui, sagt er, ich sitze gerade im Bus nach Lijiang.
Später treffen wir uns. Um mir nicht noch mehr auf die Nerven zu gehen, sucht Liu Shui sich erst eine Bleibe, dann steht er bei mir vor der Tür und begrüßt mich, förmlich. Es ist mir sehr unangenehm, ich weiß, wenn man das nicht erlebt hat, diese Gefühlsschwankungen, dann kann man sich das nicht unbedingt vorstellen. Um die Leere zu überspielen, biete ich ihm etwas Alkoholisches an. Wir reden bis tief in die Nacht, ich falle aus der Rolle, Liu Shui ist noch nüchtern. Ich sage, ich will in diese Welt, in die Menschen dieser Welt – und da ist Liao Yiwu keine Ausnahme – keinerlei Hoffnung setzen.
Liu Shui zieht die Augenbrauen hoch. Er sagt, mein guter Liao, wie können Sie so etwas sagen, wie können Sie sich so gehenlassen? Ich habe eine ganze Reihe von Ihren Interviews gelesen, das, was ich von Ihnen in diesen Texten finde, hat mit dem Mann, den ich im Augenblick vor mir habe, nichts zu tun.
Es schüttelt mich innerlich. Sofort richte ich mich ein paar Tage her, trinke nichts, esse nur etwas, lasse mich wieder zu Kräften
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