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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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mich rein, ich gebe dir auch eine Massage, umsonst!
    Ich kicherte und sagte, sie solle morgen Abend wiederkommen.
    Ich musste mich auf den Weg machen, es gab kein morgen Abend. Noch ein paar Stunden, und ich würde über diese schmale Brücke gehen. Die ruhelosen Seelen von 1989 , die Opfer von 1989 , meine Brüder, die Väter und Mütter von 1989 , im Himmel, unter der Erde, im Regen und vom Wind davongeweht, wie sie waren, im Schatten dieser Grenze verneige ich mich vor euch.
    Mondnacht durchweht den Wald,
    ich denk an meine Liebe,
    sie schläft im stillen Lehm,
    und fernher wehn Gewehre.
    Das Jahr war groß von Zorn
    und schwer vom Los des Vaterlands,
    heut sind die Fäuste leer,
    die Zeit zerbrach die Klinge.
    Mondnacht durchweht Erinnerung,
    ich denk an meine Liebe,
    die leben, treiben, werden alt,
    die tot sind, bleiben immer jung.
    November 2011 , während einer Reise durch Amerika

Li Qi,
mein Komplize
    Am Nachmittag des 2 . März 2003 bekam ich zu Hause einen Anruf von jemandem, der sich selbst als mein »Mittäter« bezeichnete. Ich ging ihm nach unten entgegen, ich sah einen großen Dicken mit rotglänzendem Gesicht das große Portal der Wohnungsgemeinschaft hereinkommen, der von weitem schon die Arme nach mir ausstreckte – dieser Mensch war in der Tat Li Qi, ein ehemaliger Dichter, der in meinem lyrischen Film »Requiem« als Statist fungiert hatte und zurzeit als Buchhändler arbeitete.
    Der Schwung der jungen Jahre war dahin, der schnaufende Rest entschuldigte sich, dass ich in meinem Buch
Für ein Lied und hundert Lieder
vergessen hatte, ihn zu erwähnen. »Macht nichts«, lachte er und begann von irgendwelchen Mittätern zu erzählen und wie es ihnen heute gehe. »Die meisten haben ein kleines Vermögen gemacht, aber es gibt auch Ausnahmen, wie der XXX , der wohnt noch in der Kreisstadt, der hat eine geheiratet, die nimmt Drogen. Wenn die Sucht loslegt, dann schneidet sie sich ins Handgelenk, da sind nur noch die vier Wände übrig, das wäre ein Objekt für eines deiner Interviews, Liao Yiwu. Und dann der XXX , dem sind in zehn Jahren zwei Frauen gestorben, der schlägt seine Tage nur noch im Suff und mit Träumereien tot.
    Und du selbst?, fragte ich.
    Der jetzt 41  Jahre alte Li Qi schwieg ein Glas lang, bis er sich wieder gefangen hatte.

    LI QI:
    Wir haben uns fast zehn Jahre nicht gesehen, oder?
    LIAO YIWU:
    Ja, das muss 1994 gewesen sein, ich war gerade zwei Monate wieder draußen und habe dich einmal in Chongqing besucht. Wie Diebe haben wir am Ende deiner Gasse gestanden und ein paar Sätze miteinander gesprochen, da hast du mir auf einmal zweihundert Kuai zugesteckt und dich vom Acker gemacht. Damals war ich ziemlich deprimiert, ich hatte über zehn Stunden im Zug gesessen, um von Chengdu herüberzukommen, und du hast mich nicht einmal reingelassen, auf einen Schluck Wasser und eine Verschnaufpause.
    LI QI:
    Du hast ein gutes Gedächtnis, Liao Yiwu.
    LIAO YIWU:
    Das ist mein Kapital, das ist alles, was mir geblieben ist. Trotzdem begreife ich nicht, warum sich meine Mittäter alle vor mir verstecken. Wir beiden sehen uns wenigstens noch, der XXX geht nicht einmal ans Telefon, wenn ich anrufe.
    LI QI:
    Das ist alles so lange her, und du spielst immer noch die beleidigte Hausfrau. Ich sage dir was, Liao Yiwu, auch wenn wir gemeinsam vor Gericht gestanden haben, wir sind einander nichts schuldig.
    LIAO YIWU:
    Ich habe nichts dergleichen gesagt.
    LI QI:
    Gib dich zufrieden, wir haben einen lyrischen Film gedreht, viele haben den schwarzen Peter gezogen und gesessen, aber du allein bist als Rädelsführer berühmt geworden.
    LIAO YIWU:
    Wenn du mir das vor zehn Jahren gesagt hättest, hätte ich mich sicher mit dir geprügelt. Weißt du, wie viele Menschen bei der Blutorgie vom 4 . Juni gestorben sind?
    LI QI:
    Halt den Ball mal flach und erzähl mir nicht, hinter dir stünden Zehntausende von zu Unrecht verurteilten Seelen – lass mich ausreden! Das ist Geschichte, das ist Literatur, das muss in irgendwelchen unsterblichen Artikeln in allen Einzelheiten beschrieben werden. Darüber müssen wir nicht reden, sondern über die gigantische Konterrevolution hinter den Kulissen, von der vielleicht niemals jemand etwas erfahren wird. Du warst der Rädelsführer, du hast alle rechtlichen Möglichkeiten ausgereizt, es gab ein Vergehen, es gab ein Urteil, auch wenn es vier Jahre lautete, es war verdient. Früher oder später wird man die Urteile zum 4 . Juni revidieren müssen, dann hast du es

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